Wenn also ich weiß, dass mein geliebter Partner extrem leidet, wenn er weiß, dass ich mit einem anderen schlafe, also klar ist, dass er eine offene Beziehung emotional nicht leben kann, habe ich im Vorfeld zwei Möglichkeiten: ihn nicht zu heiraten oder alles wegzulassen, womit ich ihm bewusst wehtue.
Damit hast Du sehr recht. Aber Du tust dann ja bereits das richtige. Du setzt Dich mit Dir und den Gefühlen Deines Partners auseinander. Zu Offenheit und Ehrlichkeit (ich schreibe das eben aus meiner (poly)-Sichtweise) gehört es meiner Meinung auch, in so einer Situation auch eine "traurige" Entscheidung zu treffen und nicht oder vorerst nicht zu heiraten. Wenn man denn der Meinung ist, dass man für die Ehe monogam sein MUSS.
Das "Falsche" wäre, an der Stelle mit einer "wird schon schiefgehen"-Haltung schnell zu heiraten, solange alles einigermaßen zusammenhält. Das geht dann meistens schief, weil zu viel unausgesprochen bleibt und die ganzen Konflikte erst gemeinschaftlich ignoriert und 10 Jahre später dann um so leidenschaftlicher ausgetragen werden - dann womöglich schon auf Kosten der Kinder.
Persönliche Freiheit in allen Ehren, aber wenn ich heirate und Kinder bekomme, muss mir klar sein, dass diese allein aus der Verantwortung heraus nicht mehr die oberste Priorität sein KANN.
Und genau das sehe ich wiederum ganz anders. Ich kann nur ein verantwortungsvoller Teil einer Familie sein, wenn ich mich dort frei, gewollt und respektiert fühle. Eine Ehefrau, die sexuelle Erfüllung nur heimlich bei ihrem Liebhaber findet, weil ihr Mann ihr klarmacht, dass er "Untreue" nicht akzeptieren würde, ist eine Gefahr für die Sicherheit der Familie, sobald ihre Affäre auffliegt. Was hat sie für eine Wahl, wenn ihr Mann ihr eine solche Bedingung für ihre Beziehung diktiert, aufzwingt? Bei der Hochzeit hat sie es womöglich nie für möglich gehalten, sich mal in einen anderen Mann zu verlieben, aber es ist passiert und eigentlich will sie nicht zurück. Das sind die Situationen, die millionenfach passieren und Familien zerstören, nur weil es so eine "dämliche" und menschenfeindliche Doppelmoral in unserer Gesellschaft gibt.
Könnte die Frau sich sicher sein, dass ihr Mann ihre Bedürfnisse kennt, respektiert und akzeptiert, weil er sie liebt (und das im Vordergrund steht), sähe das womöglich anders aus.
Ich plädiere ja nicht mal für offene Beziehungen - ich glaube nicht, dass das gut geht. Aber wer behauptet denn, dass man z.B. mit einem guten besten Freund nicht auch tollen Sex haben kann. Es gibt einen Spruch, der oft zitiert wird, aber - finde ich - auf die Schwinger der Untreue-Keule eigentlich fast immer zutrifft:
Eifersucht hat nichts zu tun mit der Liebe die man für den anderen empfindet. Eifersucht hat zu tun mit der Liebe die man für sich selbst nicht hat.
Und was das Verlieben in andere betrifft: einfach so, aus einer naturgegebenen Laune heraus passiert das meiner Ansicht nach nicht, sondern eher dann, wenn in der eigenen Ehe der Wurm drin ist.
Glaubst Du das wirklich? Ich kenne diese Annahme von vielen Menschen unseres Alters. Aber ich kenne auch einige Menschen "mittleren" Alters, unserer Elterngeneration, vor allem wenn sie die erste Ehe hinter sich gelassen haben, die darüber nur milde lächeln können.
Es kommt auf die Erwartungen gegenüber einer langen Beziehung oder Ehe an. In den meisten Fällen schwindet die Lust aufeinander mit den Jahren auf ein kleines, aber feines Level. Man verändert sich körperlich, es gibt zwischenzeitlich wichtigeres, was zusammen "gemanagt" werden muss als der gemeinsame Sex, der einem vielleicht auch gar nicht mehr so wichtig ist. Aber die Bedürfnisse bleiben, und sie werden nicht unbedingt schwächer. Ist deshalb in der Beziehung der Wurm drin? Oder ist es nicht einfach der Lauf der Dinge? Sicher gibt es viele, viele Ausnahmen. Aber statistisch betrachtet ist Monogamie und die damit verbundene romantisch-idealisierte Treue-Diskussion einfach keine sehr gute Idee. Offensichtlich nicht.
Ich habe selbst zwei Kinder und geschiedene Eltern und glaub mir: ich hätte es besser gefunden, sie hätten sich eher getrennt
Ich habe ein Kind und meine Eltern leben in Trennung. Sie kommen aber gut damit klar, denn ihnen ist beiden bewusst, dass der "Zweck" ihrer Ehe inzwischen erfüllt ist und für beide nochmal ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Auch wenn die beiden jetzt denken, eigentlich nicht zusammen zu passen, sollte ich als ihr Sohn mir wünschen, sie wären diese Beziehung nie eingegangen? Im Gegenteil, ich hoffe dass sie das, was sie mir beigebracht haben auch leben und ihre einstige Freundschaft wieder beleben können. Dass sie alles nicht so verbissen und auch mit einem zwinkernden Auge sehen können, damit ich keinen von beiden "verlieren" muss. Nach so vielen Jahren kann keiner mehr die Familie verlassen. Das würde ich als Untreue empfinden.
Und aus diesem Grund habe ich geheiratet, obwohl ich ganz offen damit umgehe, dass ich nicht monogam leben möchte. Ich will offen(siv) damit umgehen, dass ich Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse habe, die sich mit dem herkömmlichen "Treue"-Ideal nicht verbinden lassen und mich damit nicht verstecken müssen will. Trotzdem möchte ich Verantwortung für eine Familie und Kinder übernehmen und ihnen sogar eine gewisse Sicherheit bieten. Und nicht zuletzt von den Vorteilen der Institution Ehe in diesem Land profitieren. Ich denke das hat ganz andere Dimensionen als das kleingeistige Schimpfen von "Beziehungspartnern", wenn der andere mal nem knackigen Hintern hinterherschaut. Sollen die glücklich werden damit. Ich sag "Nein, danke!".