Kreuziget ihn!
Alre, du Dauerfragenstellende, fragtest:
"Ich wüsste gern: wie geht es Euch mit BDSM und Christentum. Zwei unvereinbare Gegensätze oder zwei Lebensbereiche, die einander nicht ins Gehege kommen?"
Nun, wenn es zwischen BDSM und Christentum Gegensätze gäbe, dann wohl nur einer, und nicht zwei.
Aber: was man auch immer unter dem einen wie dem anderen verstehen mag, mir scheint der Bereich von sexueller Lust und erotischen Fantasien von dem Bereich einer Glaubensrichtung so weit verschieden, dass ich da keinen Gegensatz erkennen kann. Das liegt vielleicht daran, dass ich kein Christ bin, wiewohl mich das Christentum als Basis meiner und unserer Herkunft sehr fasziniert.
Etwas anderes ist es natürlich, wenn ein Mensch sich als Christ definiert und aus seinem Christsein eine bestimmte Ethik ableitet (oder diejenige irgendwelcher Kirchenoberen in sein Denken integriert). Da mag es christliche Strömungen geben, die den "Leib" als die "sterbliche Hülle" gegenüber dem Geist für gering erachten, und damit auch dessen Freuden - die erotische Lust – gegenüber den Freuden der geistigen Nähe zu dem, was sie "Gott" nennen, gering achten oder gar verächtlich machen. Über die "Leibfeindlichkeit" des Christentums wurden schon ganze Bücher geschrieben. Aber das Problem, das daraus heute erwachsen kann, ist kein spezifisch BDSMlerisches.
Noch anders wird es, wenn Menschen mit einer bestimmten christlichen Haltung erotische Lust als des Teufels ablehnen und Sex auf den Sexualakt zur Zeugung von Nachkommen reduzieren. Wenn ein solcher Mensch Lust daran hat, gepeitscht zu werden, hat er wahrlich ein Problem.
Du fragst weiter:
"Ist das Christentum ein Auslaufmodel, ...."
Ja, aber das haben bisher nur die wenigsten gemerkt.
So geht es oft mit den grossen und kleinen Bewegungen der Geschichte: etwas ist schon "aus", aber in seiner Verendung kann es sich noch einmal zu höchster Macht aufspreizen, und oft noch beträchtlich viel Schaden anrichten. Im Kleinen sehen wir das etwa an Liebesbeziehungen: sie sind oft "aus", aber die Menschen trennen sich erst fünf Jahre später oder werden erst durch den Tod eines der Partner getrennt.
" ..... nur noch als Secondhand-Boutique für Symbole und Rituale zu gebrauchen,"
Nein, nein. Das Christentum stellt immer noch für viele Menschen eine erstklassige teure Modeboutique mit einer Menge Waren dar, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse kaufen können.
Aber was haben diese Fragen mit BDSM zu tun? Es gibt im Web Religionsforen ...
".... oder war christliche Moral gar die Hemmschwelle, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse auszuleben?"
Ist eine andere Frageebene als die vorigen, aber hier erkenne ich den Zusammenhang mit unserer BDSM-Lust.
Bezüglich meiner persönlichen Geschichte beantworte ich die Teilfrage mit "ja".
"Oder bereichert gemeinsam gelebter Glaube auch die BDSM Beziehung und macht gegenseitiges Vertrauen erst wirklich möglich?"
Redest du hier von "Glauben" im allgemeinen Sinne oder meinst du immer noch den christlichen? Deine Frage impliziert eine andere Frage: wird gegenseitiges Vertrauen, Grundlage für gut gelebten BDSM, erst durch gemeinsamen Glauben "wirklich möglich"? Du ahnst: hier protestiere ich heftig. Vertrauen zwischen zwei Menschen gründet sich doch nicht auf deren gemeinsamen Glauben.
Aber Vertrauen findet einen Nährboden, damit es wachsen und gedeihen kann, wenn zwei Menschen in vielen anderen Bereichen ausserhalb BDSM eine seelischen Gleichklang empfinden. Dieser kann durch gemeinsamen Glauben natürlich gestärkt werden, wie auch durch gemeinsame Liebe zur Beteiligung an Golfturnieren oder zu Bergwanderungen oder Weihnachtsbasteleien.
Deine Überlegungen und Beobachtungen, die du am Anfang deines Eingangspostings machtest, scheinen mir interessanter. Die Ähnlichkeit christlicher und BDSM-Symbolik. Das Knien etwa: zuerst kniete ein Mensch vor einem Menschen. Das geschah dann, wenn er, der Schwächere, sich ihm, dem Stärkeren, unterwerfen wollte, um nicht getötet zu werden. Macht Sinn für mich: Das Knien bringt das Haupt auf Brusthöhe des Überlegenen, zeigt, dass man sich selbst an einer schnellen Flucht hindern will (die Sekunde, die man braucht, um aufzustehen), und bringt den eigenen Blick aus dem Blickraum des Überlegenen.
Dass diese sehr ausdrucksvolle und starke Geste als Symbol Eingang fand in einen ganz anderen Bereich nämlich den des Glaubens, wenn es darum ging, der Unterwerfung unter das absolut Höchste ("Gott") ein Bild zu verleihen, scheint mir logisch.
Und weil Erotik immer was mit "Power Exchange" zu tun hat und die besondere Form der Erotik namens BDSM "Power exchange" besonders und bewusst inszeniert, scheint mir auch logisch, dass in diesem Bereich das Knien ein wunderbares Ausdrucksmittel geworden ist.
Oder die Arbeit mit Schmerz (Session, Geissler-Orden): nichts spezifisch Christliches. Der Gedanke, durch Schmerzerfahrung samt ausgeschütteten Endorphinen nicht-alltägliche Bewusstseinszustände zu erreichen, ist ein alter und ein wahrer. Man denke etwa an indische Yogis. Solche rauschhaften Zustände wurden oft mit einer grösseren Nähe zum Göttlichen assoziiert. Das Christentum setzt dem noch eins oben drauf: es gründet sich auf eine Leidensszene von packender Kraft: zuerst wird das Höchste, Gott, Mensch, und dann wird dieser Gott als Mensch auch noch Todesqualen am Kreuz ausgesetzt. Welch' Endorphinrausch! Nägel durch Arme und Beine!
Das Problem der Erotik entstand nun dadurch, dass durch diesen einmaligen, unwiederholbaren Akt dieses extatische Leiden quasi von Gott gepachtet war (für den einzigartigen Akt der Sündenerlösung) und damit fortan jeder Mensch, der sich in eine ähnliche Situation begibt (eine Session etwa) sich anmasst, sich gottähnlich zu machen. Das darf natürlich nicht sein. Deshalb hat das Christentum nie eine Schmerzleidenskultur gefördert. Auch die Geissler wurden von der Kirchenleitung mit Argwohn betrachtet. Dies zeigte auch der Film "24/7 – The Passion of Life" wunderbar: als die Domina mit dem jungen Priester die Kreuzigungsszene spielt, erreichte der Film seine Spitze der Blasphemie.
Von Seiten der/des Doms tut sich ein spiegelbildliches Problem auf: Er bringt sich, peitschenschwingend, in die Position derjenigen, die Gott (Mensch geworden, namens Jesus) gepeitscht haben, als dieser sein Kreuz nach Golgotha schleppte.
Und noch ein dritter, von dir genannter Punkt sei erwähnt: das Phänomen der Hingabe und Demut. Auch hier haben nicht christliche Haltungen ihren Weg in die BDSM-Kultur gefunden, sondern das Christentum hat die Fähigkeit zur Hingabe an einen anderen Menschen für seine Zwecke umgewandelt, indem es forderte, dass es nur ein wahres Objekt der menschlichen Hingabe geben kann – und das ist Gott. Zugleich entsexualisierte es diese Hingabe, was zumindest in einigen Fällen nicht funktionierte, denn ein paar Nonnen haben ihre "unio mystica" (mystische Vereinigung) mit Gott sehr wohl als einen Akt beschrieben, der in ihnen Orgasmusgefühle aufkommen liess. Nun, wir wissen: Sex beginnt nun mal im Kopf.
Hat man diese Aspekte im Blick, wird deutlich, warum für manche Christen BDSM ein Problem darstellen kann. Indem das Christentum allgemein menschliche Symbole für sich reservierte, BDSM aber in seinen Inszenierungen sich der selben Symbole bedient, ist eine scheinbare Nähe augenfällig, die zurückschrecken lässt.
Ich fragte mich oft, warum BDSM gerade in der christlichen Kultur und in keiner anderen in Erscheinung trat. Möglicherweise liegt der Schlüssel im Säkularisationsprozess, der seit 250 Jahren im Gange ist: der Mensch emanzipiert sich von seiner Unterordnung unter seinen Glauben. BDSM ist ein Meilenstein dieses Säkularisationsprozesses: man nimmt die stärksten christlichen Symbole und spielt mit ihnen in genau dem Bereich, der vom Christentum als die grösste Bedrohung empfunden wurde: der Sexualität.
stephensson
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