Aus der Deckung
Einige von uns bringen ihre BDSM-Neigung mit Vergewaltigungserfahrungen der Kindheit oder Jugend in Verbindung.
Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass die Folgerung, alle BDSMler hätten also eine Vergewaltigungserfahrung gemacht, logisch unsinnig ist. Die hier im JC zu lesenden Schilderungen zeigen ein solch vielfältiges, individuelles Erleben von BDSM, dass es manchmal schon grenzwertig erscheint, all diese Kicks und Lüste überhaupt unter einem Sammelbegriff zu vereinigen. Wie soll es denn angesichts dieses Umstandes überhaupt denkbar sein, dass es nur
einen Auslöser für diese erotische Liebhaberei gibt?
Dass Menschen ihre Neigungen oft erst spät "entdecken", ist angesichts des moralischen Drucks der Gesellschaft verständlich. Entdecken kann man nur etwas, was vorher zugedeckt war.
Dass es zugedeckt war, merkt man oft daran, dass die Menschen früher heftig gegen BDSM polemisiert haben, bevor sie ihre Lust daran "entdeckt" haben, also: sich ihre Lust zugestanden haben. Unter uns Postern muss es muse2007 wohl so gegangen sein.
Daraus aber zu folgern, wie es Trigon tut, dass
allen Menschen BDSM gleichsam eingeboren wäre, ist wiederum ebenfalls unsinnig. "Ich bin ziemlich sicher, dass die Wissenschaft am Ende feststellen wird, dass die Neigung uns allen (mehr oder weniger) angeboren ist." Für diese Annahme gibt es nicht den geringsten Grund, mal abgesehen davon, dass die Wissenschaft bisher alles beweisen konnte, was sie wollte. Es gab eine Zeit, in der haben biologische und anthropologische Wissenschaftler "bewiesen", dass es höherwertige und minderwertige menschliche Rassen gibt.
Eine Frage, die ich spannender finde, ist die:
Wie funktioniert der Mechanismus, dass wir traumatische Erlebnisse sexualisieren?
Lustmann51 und Seelentanz haben auf beeindruckende Weise hier ihre Erfahrungen geschildert. Im einen Fall ist es die Sehnsucht nach Geliebtwerden, die nur dadurch befriedigt wird, dass man von der Person, deren Liebe man sucht, geschlagen wird. Gräbt sich so das Geschlagen-Werden als Transportmittel für die (verquere, pervertierte) Liebe ein? So dass man Jahrzehnte später genau darin seinen erotischen Kick findet?
Und wenn berichtet wird, dass auch bei einer Vergewaltigung jenseits aller Schrecken eine Spur von Lust da war – liegt diese darin begründet, dass man
überhaupt einmal berührt wurde? Kann es sein, dass man sich stets nach Berührung (kein Sex, sondern Zärtlichkeit!) gesehnt hat und diese nie bekommen hat? Und diese Sehnsucht bei der Vergewaltigung ein kleines Stück weit – wie gesagt: trotz aller Schrecken – befriedigt wurde?
Und dann, wenn man über das Erlittene reflektiert, kommt die grosse
Scham über einen, diese Scham, die sogar dazu führen kann, dass man sich perverser Weise für das zugefügte Leid auch noch verantwortlich fühlt, - sich schuldig fühlt -, welche Funktion hat die
Scham – Joan79 hatte es angesprochen – für die spätere Sexualisierung der frühen Erfahrung?
Und weiter hören wir von denjenigen, die ohne häusliche Gewalt, ohne Schläge, aufwuchsen. Welche unerfüllte Sehnsucht wurde hier später sexualisiert? War es gerade die "zu heile", "zu geordnete" Welt, die kreative Ausbruchsimpulse unterdrückte? War es eine mittelbare geistige Gewalt, die Verhaltensnormen zimmerte, denen man bei Strafe des Liebesentzugs der Mutter sich beugen musste?
Spüren wir solchen biografischen Erfahrungen nach, sollten wir zwischen D/S und S/M trennen. Die Lust, Schmerzen zu erleiden, hat eine völlig andere seelische Struktur als etwa die Lust, sich vertrauensvoll fallen lassen zu können und nicht immer "ansagen" zu müssen, was läuft. Wiederum können beide Lüste sich überschneiden. Umgekehrt gilt das für die unterschiedlichen Empfindungen von Sadisten und Doms genauso.
Die Frage nach dem Ursprung unserer Neigungen wird nie zu einem eindeutigen und verallgemeinerbaren Kausalzusammenhang führen – das muss sie auch gar nicht. Wesentlich sind einzig die damit verbundenen
Klärungsprozesse, die dazu führen, dass unser Bewusstsein weiter schwingen, unsere Freude grösser und unser Lebensgefühl freier sein kann.
stephensson
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