Dunkelkammer
@*******anz
Du hast mich auf eine Inkonsequenz meiner Argumentation hingewiesen. Mit Statistiken kommen wir, bezüglich der Frage des Ursprungs von SM, nicht weiter. Da zuerst überhaupt einmal klar gemacht werden müsste, was BDSM ist und wie es sich im subjektiven Befinden der einzelnen Menschen widerspiegeln kann, um überhaupt einen Fragekatalog entwickeln zu können, dessen statistische Auswertung Aussagekraft besässe, können wir das Unternehmen knicken.
Ich merkte im Nachhinein, dass meine Gedanken von Trigons unbedachter biologischer Anthropologie beeinflusst waren, die ich als ideologisch und gefährlich zurückweise.
Deine Überlegungen und Erfahrungen heben nun die Frage nach dem Ursprung von SM in eine ganz andere Dimension: die der "Dunkelheit". Und genau da beginnt die Sache für mich spannend zu werden.
Du hast das deutlich gemacht mit deinen Fragen: "Weiterhin frage ich: Befinden wir uns mit BDSM in einem Grenzbereich menschlicher Erfahrung? Soll, wenn Grenzbereich, dieses Gebiet überhaupt an das Tageslicht kommen, denn es ist doch so schön im Dunkeln zu schunkeln? Hat der Mensch nicht gerne seine " süßen Geheimnisse ", solange es draußen "gut" läuft und keiner eine Ahnung hat?"
Befinden wir uns mit BDSM in einem Grenzbereich menschlicher Erfahrung?
Definitiv ja. Genau genommen befinden wir uns in der Erotik allgemein in einem Grenzbereich menschlicher Erfahrung. Nur fruchteten die Versuche, erotisches Verhalten zu normieren, in den letzten zweitausend Jahren ungemein, so dass das "Grenzhafte" der Erotik im üblichen Sex nicht mehr zum Vorschein kommt. Im BDSM dagegen sehe ich eine Art "Rückzugsgebiet" des Eros, in dem seine Grenzenhaftigtkeit heute überhaupt noch aufscheinen kann.
Was heisst aber "Grenzgebiet"? Die erotische BDSM-Erfahrung ist eine, die nicht irgendeine menschliche Erfahrung ist, sondern eine, die die
Grenze menschlicher Erfahrung im Blick hat und diese Grenze erfährt. Aber wie kann man die Grenze menschlicher Erfahrung "erfahren"? Die Erfahrung der Grenze menschlicher Erfahrung wäre ja gerade deren
Nicht-Erfahrbarkeit. Denn wenn alles erfahrbar wäre, wäre BDSM kein
Grenz-Gebiet sondern ein Gebiet wie alle anderen Gebiete menschlicher Erfahrung auch (Babys stillen, Rasen mähen, sich um den Job sorgen, nach Mallorca in den Urlaub fliegen etc.).
Jetzt wird es aber kompliziert: Wenn BDSM an der Grenze der Erfahrung liegt, wie erfahren wir denn dann die Nicht-Erfahrbarkeit? Gar nicht. Wir können damit auch nicht einmal darüber sprechen, denn sprechen können wir nur über Erfahrungen. Aber um Himmels willen: wie
sind wir denn ohne Erfahrbarkeit? Wir definieren uns doch über unsere Erfahrung. Wenn wir im BDSM an der Grenze unserer Erfahrung sind, heisst das ja, dass wir an der Grenze unseres
Seins sind ….!
Soll, wenn Grenzbereich, dieses Gebiet überhaupt an das Tageslicht kommen, denn es ist doch so schön im Dunkeln zu schunkeln?
Erfahren können wir nur etwas, wenn wir es
sehen. Sehen können bedarf Licht. Du sagst, BDSM sei eine Gebiet ohne Licht, deshalb ist es ein Grenzgebiet. Es ist ein Gebiet an der Grenze zur Dunkelheit. Welche Dunkelheit?
Seit alters her hat man
Vernunft mit "Licht" in Verbindung gebracht. Man sprach vom "Licht der Erkenntnis" oder vom "Age of Enlightment" (Zeitalter der Aufklärung). Dort, wo Dunkel ist, kann keine Vernunft sein. Im Dunkel sind unsere rational geprägten, ach so vernünftigen Selbstbilder, unsere rational geprägten Alltagssorgen und –kümmernisse wie weggewischt.
BDSM wäre demnach das Unvernünftige. BDSM wäre der Hinweis darauf, dass wir Menschen viel mehr sind als uns unser rationaler Verstand vorgaukelt zu sein.
Hat der Mensch nicht gerne seine " süßen Geheimnisse ", solange es draußen "gut" läuft und keiner eine Ahnung hat?
Übersetzt heisst das: spürt der Mensch nicht, dass er
mehr ist als der treu sorgende Vater, die lieb sich kümmernde Mutter, mehr als der
homo oeconomicus, der verständig seine Lebensversicherungsraten erhöht?
BDSM wäre also die Realisation einer Sehnsucht: ich bin mehr als mein Verstand. Ich bin mehr als ich in meiner gesellschaftlichen Rolle zu sein vorgebe. Ich kann unmoralisch sein, meine Geliebte schlagen, meinem Geliebten Kommandos geben, Zärtlichkeit über Bord werfen, mir Schmerzen zufügen lassen ….
Im Schlussabsatz deines Postings äusserst du eine geschichtliche Erfahrung: " … dass der Mensch die Neigung zur Macht und Unterwerfung gerade auf dem Gebiet der körperlichen Lusterfahrung schon immer praktiziert hat und noch stets praktiziert."
Du redest nicht exklusiv von BDSM. Du sagst, Macht und Unterwerfung war schon immer ein Element erotischer Lust.
Auf die Ausgangsfrage des Threads umgemünzt heisst das schlicht:
Der Ursprung unserer SM-Neigungen liegt im Wesen des Menschen begründet.
Wenn wir das ernst nehmen – und ich neige sehr dazu, dies zu tun -, folgen daraus eine Menge weiterer Gedanken, unter denen sich geradezu ein Abgrund auftut:
1. Die Idee der Menschenrechte (alle Menschen sind gleich, keiner soll mehr Macht haben als der andere) und der Demokratie steht der Erfahrung erotischer Lust diametral entgegen.
2. Meine Verwunderung über den Umstand, dass es den Menschen seit ca. 20.000 Jahren, den Begriff "BDSM" aber erst seit ca. 100 Jahren gibt, löst sich darin auf, dass frühere Menschen sexuelle Lust im Machtgefälle gleichsam natürlich erfuhren und lebten (oder sie ihnen aufgezwungen wurde), dass jedoch erst die Ideen der Gleichheit aller Menschen und die damit einhergehende Tabuisierung von Machtgefällen dazu führte, einen eigenen Begriff für diejenigen Menschen bereitstellen zu müssen, die auf die Erfüllung ihrer Lust innerhalb von Machtgefällen bestanden.
3. Die sog. "moderne Gesellschaft" negiert mit ihren Idealen eines der Grundbedürfnisse des Menschen, nämlich erotische Lust erfahren zu wollen, indem ihre Ideale – kein Machtgefälle! – gegen die Voraussetzungen dieser Lust opponieren.
4. Das Verhältnis der uns immer noch leitenden Maxime der Französischen Revolution ("Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"), die Frau Merkel in den nächsten Tagen auch in China wieder ansprechen wird, zu unserer erotischen Lust – Machtgefälle – ist ungeklärt.
5. Ebenso ungeklärt ist das Verhältnis zwischen "Licht" (Vernunft, Alltagsrationalität) und "Dunkel" (erotische Lust) im menschlichen Sein. Ja, es scheint so, als ob derzeit die Bemühungen der Menschheit auf Hochtouren laufen, zu belegen, dass das "Dunkel" überhaupt nicht existiert. Am Ende werden wir doch noch alles "vernünftig" (also ohne Dunkel) "erklären" können.
Deinen Gedanken noch weiter treibend heisst das, dass im BDSM ein Hinweis liegt, dass das Wesen des Menschen heute und nach wie vor ungeklärt ist. Gab es in früheren geschichtlichen Herrschaftsverhältnissen mannigfaltige Gelegenheiten, die erotische Lust innerhalb von Machtgefällen auszuleben (in der heutigen Sprache: sowohl als "Opfer" als auch als "Täter"), verdrängt die heutige herrschende Ideologie solche Lüste in die "Dunkelheit" des gesellschaftlichen Abseits, die dann mit dem Label "BDSM" bezeichnet wird.
Noch in Mozarts Oper "Figaros Hochzeit" ist Graf Almaviva drauf und dran, von seinem angestammten Recht Gebrauch zu machen, die jungfräuliche Braut zu entjungfern, bevor der Bräutigam seinen Samen in ihr ablegen darf.
Und über die erotischen Exzesse von sog. Hexenfolterungen zu Beginn der Neuzeit sind schon Bände genug geschrieben worden, als dass ich auf sie hier eigens eingehen müsste. Mich amüsiert jedoch der heutige Besucherandrang von sog. Foltermuseen. Mein Traum: ein Hygrometer in der Unterhose eines jeden Besuchers.
Um dem Ursprung von BDSM nachzuspüren, gälte es also, sich der "Dunkelheit" zu stellen, die die menschliche Erotik impliziert. Das hiesse vor allem, eine Sprache zu finden, die sich traut, jenseits aller eingeübten Reflexe von "political correctness" Dinge zur Sprache zu bringen, deren Charakter geradezu darin besteht, sich in die Dunkelheit des Nicht-Benanntwerden-Wollens zurückzuziehen.
Vor ca. einem Jahr beobachtete ich während eines Clubabends, wie eine Frau mit entblösstem Gesäss auf einen Strafbock geschnallt war und ihr Partner in ca. drei Meter Entfernung hinter ihr stehend Dart-Pfeile auf ihren Hintern war, die in diesem dann stecken blieben.
Unmittelbar meinte ich zu spüren, dass ich Zeuge der "Dunkelheit" wurde, von der du, Seelentanz, sprachst.
stephensson
art_of_pain