Zu Ruros Anthropologie
Ruros Grundskizze einer Anthropologie und ihre damit verbundene Deutung der Neigung BDSM ist elegant und wohl formuliert. Damit lohnt es sich, näher hinzuschauen. Ich möchte im Folgenden ihre Argumente durchgehen.
"Dominierung und Submission haben ihren Zweck für die Entstehung und Erhaltung der Gesellschaft."
In diesem Thread war nach dem
Ursprung unserer "Neigungen", nicht nach deren Zweck gefragt worden. Ruro sieht unsere Neigungen als eine Zuspitzung von allgemeinen menschlichen Eigenschaften, die nicht nur auf unser sexuelles Vergnügen bezogen sind, sondern etwas mit Herrschaftsstrukturen zu tun haben. Es liegt gewissermassen in der menschlichen Natur, dass einige Vertreter der Spezies dominant, andere wiederum submissiv sind. Welche Instanz entscheidet, ob ein Mensch sich auf die submissive oder auf die dominante Seite schlägt, lässt Ruro offen. Sie argumentiert "rückwärts" und geht von Annahmen aus, die völlig unbewiesen sind: a) Gesellschaft hat nur entstehen können, weil es Herrscher und Beherrschte gibt, und b) Gesellschaft, sich wie ein bewusst handelndes Subjekt verhaltend, will sich "erhalten". Weil Gesellschaft, bevor es sie gab, "entstehen" wollte, suchte sie sich den Menschen und teilte ihn in Dominante und Submissive ein. Dadurch entstand sie. Um sich dann auch noch zu erhalten, beförderte sie die Weiterexistenz von Dominanten und Submissiven.
Mit solchen Argumentationen ist
nichts erklärt. Sie folgen in ihrer logischen Struktur mittelalterlichen Gottesbeweisen. Ich erfinde einen Begriff von Gott, und aus diesem Begriff leite ich das So-Sein der Welt ab und werte diese Ableitung als Erklärung für das So-Sein der Welt.
Nebenbei sei bemerkt, dass wir
keine Ahnung haben, wie Menschen vor 20.000 Jahren, die in den Höhlen von Südfrankreich und Nordspanien gelebt haben, ihre "Gesellschaft" organisiert haben und ob es dort Dominanz und Submissivität gab.
Ruro weiter: "Die Dominierenden bekommen ihren Kick durch das Leiten und Erteilen von Aufgaben und dies wird ab und zu durch eine physische Machtausübung unterstützt (also Aggression)." Das kann man durch empirische Beobachtung stützen.
"Bei den Submissiven wird das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert, wenn sein Herr in ihm Gefallen findet, denn dieser sorgt für sein Überleben." Weder ist ein "Belohnungssystem im Gehirn" nachgewiesen (auch wenn manche Verhaltensforscher das Feuern von Neuronen als ein solches postulieren), noch ist gesichert, dass ein Mensch einen Herrscher braucht, um zu "überleben". Dies wäre nur denkbar, wenn er sich zuerst zum Überleben notwendige Fähigkeiten
abtrainiert, um sich danach in den Herrschaftsbereich eines Dominanten zu begeben, der ihm dann das Überleben sichert.
"Von daher ist der Hang zu BDSM eine Veranlagung." Hier schlägt Ruro den Haken zu unserer Lust. Allerdings fehlt jeder Hinweis, wie denn die Mitspieler gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen nun plötzlich zu ihrer sexuellen Lust, unseren "Neigungen", kommen sollen. Was ist eine "Veranlagung", wenn nicht ein blosses Hilfswort unserer Sprache, um unser Nichtwissen zu kaschieren? Und worin besteht die Veranlagung und woher kommt sie? Aus der Notwendigkeit, dass Gesellschaft "entstehen" soll. Damit ist die zirkuläre Struktur von Ruros Argument perfekt – in der Tat eine "Tautologie".
"Doch seit es Leben auf der Erde (bzw. im Universum) gibt, gibt es ständig Mutationen, Perversionen aber erst, seitdem es Menschen gibt. Denn eine Perversion entsteht durch komplexe geistige Veränderungen, die nur durch einen so genannten Geist erkannt und von solchem bezeichnet wird."
Das hatten wir nun wahrlich in vielen anderen Threads geklärt: Perversionen "entstehen" nicht, sondern werden definiert, je anders in je verschiedenem historischem und gesellschaftlichem Kontext. Perversionen in einen Bezug zu Mutationen zu bringen, ist an den Haaren herbei gezogen: Der Begriff "Mutation" stammt aus der Evolutionsbiologie und schildert eine These, wie es zu den vielfältigen Lebensformen auf der Erde kam, "Perversion" ist dagegen auf menschliches
Verhalten bezogen und hat nichts mit unterschiedlichen Tierarten zu tun.
"Am Beispiel des BDSMs merkt man eine Zweckentfremdung bzw. einen Schwerpunkttausch: Das Boot fährt nicht mehr durch die Zusammenarbeit des Sklaventreibers und seiner Sklaven schneller." Diesen Gedanken verstehe ich nicht; eine mögliche Deutung ergibt sich, wenn ich den folgenden Satz Ruros dazunehme:
"Der Schmerz ersetzt die Rolle des produktiven Handelns. Man bestraft und wird bestraft, um Lust zu empfinden."
Demnach ist BDSM eine
Spätform von Dominanz und Submissivität, die, ursprünglich gar nicht sexuell gedacht, dazu da war, Gesellschaft entstehen zu lassen und am Leben zu erhalten. Was ursprünglich die Gesellschaft voran brachte (der Herr befiehlt, die Sklaven arbeiten, gesellschaftlicher Reichtum und Wohlstand wird vermehrt, wie etwa in Rom), wird jetzt bloss noch im Sex zelebriert. Ist nicht mehr "produktiv", produziert also keine Waren mehr. Das Auftauchen von BDSM ist also ein Anzeichen des Verfalls der Gesellschaft.
Das ist ein spannender Gedanke, denn den Begriff BDSM gab es etwa 1720 noch nicht. In der Tat könnte die Übersexualisierung heutiger westlicher Gesellschaften ein Indiz für deren Verfall sein. Nur: wiederum ist die Übersexualisierung mitnichten nur auf BDSM bezogen, und andererseits gibt es genügend historische Hinweise, dass – auch ohne den Begriff zu haben – frühere Zeiten sich schon mittels BDSM-Elementen einer besonderen sexuellen Lust erfreut haben. Ich denke etwa an die Bacchanalien im antiken Griechenland.
Ruro weiter: "Hier steht immer noch kein Widerspruch zur Debatte, denn, auch wenn das Produkt einer Perversion nicht normal ist, ist die Perversion, genau wie eine Mutation, immer noch normal." Dieses Argument gründet auf der Gleichsetzung von Mutation und Perversion, die, wie ich oben zeigte, keine Grundlage hat. Ebenso ist "normal" eine willkürliche Definition; die Entgegensetzung des "unnormalen" "Produkts" einer Perversion mit deren "Normalität" führt angesichts dieser Willkür zu nichts. Zudem sehe ich nicht, welcher Widerspruch, nach Ruro, überhaupt hätte zur Debatte stehen können.
"Somit sprechen zwei Punkte für die Veranlagung." Ich sehe keine "zwei Punkte" im bisherigen Argumentationsverlauf.
In den folgenden Sätzen Ruros meine ich endlich zu spüren, was sie
eigentlich sagen will:
"Menschen wie ich, die in die Rolle der Domina und der Sub reinschlüpfen können (die früher ungern die Peitsche in der Hand hielten oder im Boot saßen und ruderten bzw. als Löwe lieber das Rudel verlassen und verhungern würden, als vom Leittier misshandelt zu werden), kennen einen Abschnitt in ihren Leben --- entweder verdrängt oder vergessen ---, der sie so verunstaltet haben."
Ruro spricht von ihrem eigenen
Schmerz. Sie wollte sich nicht in das Gefüge von Herrschaft und Knechtschaft einfügen, wollte lieber sterben ("… als Löwe lieber …verhungen ..") als sich diesem Gefüge unterzuordnen. Sie ist nicht gestorben, aber sie wurde "verunstaltet". Das sind heftige, ehrliche, starke Worte. Worin besteht Ruros "Verunstaltung"? Dass sie keine Position als einsamer Löwe ausserhalb von Dominanz und Submissivität fand? Und deshalb sich für die zweitbeste Lösung entschied, mal in die eine, mal in die andere Rolle hineinschlüpfen zu können?
"Auch ich will nicht, dass mir geholfen wird. Ich erkenne nur die Abnormität an." Nach der Beschreibung des Leidens klingt die Anerkennung der "Abnormität" der "Perversionen", an denen Ruro gelitten haben mag, in meinen Ohren zynisch. Ruro muss wohl BDSM als "abnorm" definieren, um eine Rechtfertigung für das ihr zugefügte Leid zu haben. Anders kann ich mir es nicht erklären.
Ich würde mich freuen, wenn Ruro, statt eine unhaltbare Anthropologie als "Erklärung" für BDSM aufzustellen, mehr von ihren Erfahrungen und ihrem Leiden daran erzählen würde.
stephensson
art_of_pain