Das Ur des Sprungs
Muse fragte: "meint ihr wirklich,dass es einen ursprung der neigung gibt??"
Ja, es gibt einen Ursprung unserer Neigungen. Aber er bleibt im Dunkeln und ist etwas ganz anderes als das, was wir uns unter "Urspung" gemeinhin vorstellen.
Am 28. Januar 1986 explodierte die US-Raumfähre Challenger 73 Sekunden nach dem Start. Was war der Ursprung dieser Explosion? Untersuchungen ergaben, dass ein Dichtungsring an einer der Booster-Raketen, die neben dem Treibstofftank montiert waren, um dessen Gewicht in die Höhe zu heben, undicht wurde. Flammen der Rakete traten aus, brannten ein Loch in den Treibstofftank, und dieser explodierte.
Und was war der Ursprung des undichten Dichtungsringes? Jetzt wird es schon schwieriger. Man nannte einmal die mangelhafte Konstruktion, die gewählt worden war, um Kosten zu sparen. Andererseits waren tiefe Temperaturen in der Nacht vor dem Start Anlass, den Kunststoff der Dichtungen an der Booster-Rakete spröde und damit undicht werden zu lassen.
Wir merken: eine solche Art, nach dem Ursprung von etwas zu fragen, passt auf unsere Frage nach dem Ursprung unserer BDSM-Neigungen überhaupt nicht. Wieso nicht?
Offensichtlich besteht ein Unterschied zwischen
Ursprung und
Ursache. Im Fall des Challenger-Unglücks fragte ich, genau genommen, nach der Ursache, nicht nach dem Ursprung. Viele Postings hier verwechseln Ursprung mit Ursache.
Eine
Ursache gibt es für unsere Neigungen
nicht. Denn die Frage nach einer Ursache zielt auf einen plausiblen
Wirkungszusammenhang: Zuerst die Ursache, dann die Wirkung. Also etwa so: Wenn ein Junge im Alter zwischen sechs und acht Jahren von seinem Vater in der Badewanne erwischt wird, wie er seinen kleinen Lümmel in der Hand hat, und der Vater ihm eine Szene macht, wird der Erwachsene ein Maso-Sub, der vornehmlich auf Hodenfolter, mindestens vierzehntägig, steht.
Das ist natürlich absoluter Quatsch. Und genau deshalb laufen sog. "wissenschaftliche" Untersuchungen, wie sich Puppenspieler genannt hat, selbstverständlich ins Leere. Wo nichts ist, kann nichts gefunden werden. Auch nicht "wissenschaftlich".
Wir Menschen sind
nicht das "Produkt" unserer "Umwelt", so wie 27 das "Produkt" aus der Multiplikation von 3 mit 9 ist. Wer sich (verständlicherweise) danach sehnt, durch die Benennung der Ursache seiner Neigungen gleichsam seine Hände in Unschuld waschen zu können ("Ich kann ja nichts dafür, dass ich gerne Frauen peitsche, es lag an meiner Kindheit …."), wird frustriert zurückbleiben. Und muses Hoffnung: "aber es wäre echt mal interessant bestimmt dinge mal zu wissen........" muss enttäuscht werden.
Wir schweben aber umgekehrt nicht als autistische Blasen irgendwo unberührt über der sog. Realität. Wir interagieren ständig mit der Welt, mit den anderen Menschen, werden beeinflusst und beeinflussen. Ein waberndes Gewebe von multiplen Einflüssen, und jedes Leben webt ein so individuelles Netz, dass es nichts Vergleichbares im Kosmos gibt.
Alre schrieb am 10.10.06 (charmedlady zitierte sie schon): "Ich habe mich schon zu Grundschulzeiten gerne von meinen Freundinnen herum kommandieren lassen, ich habe mir Freundinnen ausgesucht, die gerne herumkommandieren," Andere Schreiber berichten ähnlich: "Ich habe schon in der Kindheit dies und jenes …..". Ich kann selbst von mir ähnliche Geschichten erzählen.
Aber es geht auch umgekehrt: Coldfish berichtet uns: "Mich haben in der Grundschule, so wie auf dem Gymnasium „dominante“ Mädchen eher angewidert. Ich wollte mir ebenbürtige Freunde, und keine, die meinten, mich herum scheuchen zu müssen, das hab ich immer sehr stark abgelehnt." Wenn wir etwas vehement ablehnen, heisst das, dass es starke Emotionen in uns hervorruft, also: dass wir etwas damit zu tun haben. Oft kehrt sich eine frühere Ablehnung in späteren Jahren in fasziniertes Begehren.
Was sagt uns dies? Das Sich-Herumkommandieren-Lassen" ist eben
nicht die Ursache oder der Ursprung der Neigung. Dennoch sagen solche Geschichten Wesentliches: Unsere Neigungen sind in uns offensichtlich schon sehr viel früher "da" als wir gemeinhin denken.
Also liegen unsere Neigungen in unserem Charakter? Damit verschieben wir bloss das Problem der Frage, denn keiner konnte mir bisher sagen, was denn "Charakter" eigentlich sei.
Masamratte, ein "tätiger Therapeut", erklärt unsere Neigungen als "Veranlagungen", die logischerweise "älter als unsere Kindheit" sein müssen, sonst wären sie nämlich keine Veranlagungen. Das, was älter als unsere Kindheit ist, muss bei unserer Zeugung schon anwesend gewesen sein. Bei unserer Zeugung waren, auf der sichtbaren Ebene, zwei Erbgutmoleküle anwesend, neben ein paar Eiweisen und Fetten. Sollen unsere Veranlagungen durch die Kreuzung des Erbguts unserer beiden Elternteile zustande gekommen sein? Glaubt jemand im Ernst, wir könnten in der Sequenz der DNA irgendwann einmal ein Domina-Gen finden?
Menschsein heisst: in einem Geschehen unendlicher Kreativität sein Inneres auszudrücken. Der Ausdruck unserer Innerlichkeit geschieht als Welt, die wir dann als Äusseres wahrnehmen. Die inneren Regungen eines jeden von uns sind einzigartig und individuell. Um sie auszudrücken, bedienen wir uns aber gerne vorgefundenen Ausdrucksangeboten. Die Welt von BDSM ist ein solches Angebot von Ausdrucks-, von Identifikationsmöglichkeiten. Wir bauen unsere Ich-Identität, unser Gefühl von Selbstsein, aus Bausteinen von vorgefundenen Bildern, Eindrücken, Rollenangeboten.
Dieses Bauen unseres Ichs geschieht ständig, bis wir sterben, und ist deshalb wesenhaft dynamisch. Häufig geschieht es uns, dass wir zunächst ein Rollenangebot annehmen (etwa: die gute, liebenswürdige Tochter), die Rolle aber später als Begrenzung unseres Selbsts erfahren (die Hülle ist uns zu eng geworden). Dann suchen wir uns eine neue Rolle. Ablösungsprozesse von alten Rollen sind oft mit Schmerzen verbunden (und z.T. mit Ehescheidungen), da wir auch immer Angst haben, eine alte gewohnte Rolle zu verlassen.
Der Ursprung unserer Neigungen liegt also
in unserer Gegenwart. Es geschieht immer genau jetzt, dass wir für unser inneres Sein eine adäquate Ausdrucksmöglichkeit suchen.
Für die
Art und Weise, wie wir unser Inneres auszudrücken versuchen, sind Kindheitserlebnisse allerdings entscheidend. Denn gerade in den ersten Lebensjahren sind die Eltern, besonders die Mutter, massgebend für die uns zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten. Im Extremfall können Eltern durch (oft ungewollte) destruktive Verhaltensweisen den Ausdruckswillen eines Kindes kaputt machen. Autismus ist die Folge.
BDSM ist eine extreme Art, unsere eingeborene Sexualität zu erleben. Der Grund, dass wir diese extreme Art wählen, ist eine extrem starke
Sehnsucht. Sie bezieht sich oft auf unseren innigen Wunsch,
uns zu spüren. Dieser Wunsch kann wiederum daher rühren, dass uns in unserer Kindheit die Möglichkeiten, uns in unserer Körperlichkeit zu erfahren,
verwehrt wurde. Hier trifft mama_ines die Sache auf den Punkt: wenn uns in unserer Kindheit etwas verweigert wurde, steigt unsere Sehnsucht danach und kann schliesslich übermächtig werden.
Wenn wir also nach dem Ursprung unserer Neigungen fragen, müssen wir unseren Blick nach innen wenden. Je ehrlicher wir dem begegnen können, was wir bei dieser Innenschau entdecken, umso mehr werden wir nachvollziehen können, warum wir BDSM als die uns adäquate erotische Ausdrucksmöglichkeit unseres inneren Seins erwählt haben.
stephensson
art_of_pain