Neigung und Klärung
Hallo Oli,
die Frage nach der Herkunft unserer Neigungen wurde schon hundertfach diskutiert, ja sogar wissenschaftlich erforscht. Meines Wissens gibt es keine einzige plausible Theorie, die sagt: wenn ein Kind Erlebnis X hat, wird es später zu einem submissiven Sado-Masochisten. Es gibt übrigens auch keine einzige plausible Theorie, auf welches Kindheitserlebnis die Lust am Golfspielen zurückzuführen wäre. Der Unterschied ist nur, dass letztere Lust gesellschaftlich anerkannt, die erstere dagegen noch in weiten Kreisen verpönt ist.
Ich bin dennoch überzeugt, dass die Beziehungsstrukturen unserer Kindheit einen erheblichen Anteil an unseren späteren Neigungen haben, aber die Erörterung ist sehr schwierig, weil man ständig in Gefahr ist, von einer "normalen" Kindheit und einer "defizitären" zu reden. Und das halte ich für fatal, denn, was normal ist, ist noch nicht geklärt.
Submissivität entdecke ich oft bei Menschen, die äusserst kontrolliert sind. Sie wollen sich immer "im Griff haben", haben oft Probleme damit, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen, sind oft strebsam und genau. In der submissiven Rollen dürfen sie endlich mal die Verantwortung aufgeben, müssen sich nicht ständig selber richten (das tut der oder die Dom), dürfen sich fallen lassen. Sie können "schweinische" Fantasien leben, weil sie ihnen ja befohlen wurden und sie nicht selbst dafür verantwortlich sind. Schläge mit der Gerte erfüllen oft insgeheime Selbstbestrafungsmechanismen, sind aber auch oft nur Auslöser intensiven Fühlens, was der Submissive sich sonst oft verbietet.
Wenn ich in deren Kindheit gehe, entdecke ich oft ein mangelndes Geliebtsein durch die Mutter. Vielleicht war die Mutter selbst unfähig, gegenüber ihrem Kind Emotionen der Liebe frei fliessen lassen zu können, vielleicht hat sie dem Kind suggeriert, es müsse ihr seine Liebe zu ihr "beweisen", indem es besonders "artig" oder leistungsbereit ist.
Ich könnte solche Gedanken fortsetzen, aber etwas anderes scheint mir interessanter:
Warum stellst du die Frage? – Offensichtlich, weil du an deiner Neigung
leidest, denn – wie du schriebst – deine Sehnsüchte blieben bisher unerfüllt. Und so hältst du dich irgendwie für "daneben" oder "defekt" und suchst Entlastung in der Hoffnung, dir wenigstens deinen "Defekt"
erklären zu können. Diesen Reflex kenne ich nur zu gut.
Neulich sagte ein schlauer SMler zu mir, man könne aus jedem – auch nicht-sexuellen - "Defekt" einen positiven Lebensentwurf machen. Über diesen Satz musste ich lange nachdenken, und ich glaube, er ist richtig. Jeder Mensch hat irgendwas in sich, was die Folge von etwas Früherem, Unglücklichen war. Es geht einzig und allein darum, mit durchgedrücktem Kreuz sich selbst ehrlich zu begegnen und zu sich zu stehen. Leichter gesagt als getan. Vielleicht eine lebenslange Übung.
Ich vermute, dass
eigentlich dein Problem nicht deine erotische Lust, sondern etwas anderes ist. Ich habe jahrelang nach "meiner" Frau gesucht und bin immer wieder gescheitert. Meine Selbstanalyse zeigte, dass der Grund darin lag, dass ich – vor mir selbst! – nicht hundertprozentig zu meiner Neigung stehen konnte. Erst als ich begann,
ohne Angst und schonungslos mir selbst zu sagen, dass ich so bin, wie ich bin, und
dass das nichts Schlechtes ist, erst dann konnte ich auch einer Frau bei der ersten Begegnung ins Gesicht sagen, was ich von ihr erwartete, und brauchte nicht enttäuscht sein, wenn sie sich darauf von mir abwandte, denn ich wusste, dass es nichts damit zu tun hat, dass ich einen "Defekt" hätte. Der eine mag lieber Fisch, der andere lieber Fleisch.
Vergiss den Eindruck der Statistik, auf zehn submissive Männer käme eine dominante Frau. Du brauchst nur genau eine Frau, und zwar die, die du lieben willst. Und die gibt es. Und die Weise, wie wir Menschen als Liebespaare zueinander finden, hat wenig mit Statistik, aber viel mit – na ja, sagen wir mal: dem Geistigen zu tun. Menschen finden durch Schwingungen zueinander.
Aber oft klappt das nicht, weil man
selbst widersprüchliche Erwartungen an den Partner hat, und das wiederum resultiert meist aus mangelnder Klarheit in sich selbst.
Einen lieben Gruss,
stephensson
art_of_pain