Mal umgesehen
Das Schöne ist ja: So viele Menschen es gibt, so viele unterschiedliche Erfahrungen kann man machen. Außerdem kommt bei mir auch noch die eigene Tagesform dazu. Manche nennen das "Erfolg ist das anziehendste Parfum". Also wenn mir was geglückt ist, im Beruf vielleicht, oder ein sagenhaftes Schnäppchen erstanden, oder was geschreinert, geschraubt oder gemalt, worauf ich stolz bin, dann begegne ich den Leuten anders als wenn ich eine Riesen-Schramme in mein Auto gefahren habe oder den Job verloren etc. Dann laß ich eher den Kopf hängen und weiche Blicken aus, traue mich vielleicht sogar nicht mal in meine Stammlokale.
Manchmal passiert's aber dann, daß mir irgend jemand unbekanntes nett kommt. Vielleicht, weil er oder sie gerade besonders gut drauf ist - oder weil er / sie mich aufmuntern will.
Es ist komisch, weil es eigentlich jeder wissen müßte, daß Menschen soziale Wesen sind und deshalb grundsätzlich immer den Wunsch nach Kontakt haben. Trotzdem machen wir es uns mit Kultur, Erwartung und Verhaltensweisen unglaublich schwer, auch nur das geringste Signal zu senden. Macht man nicht, ist unanständig, ist Anmache, proletenhaft -
Es hat bei mir sehr lange gedauert, bis ich es fertiggebracht habe, mich nicht mehr in der Auswahl zu beschränken. Wenn ich mir schon die Blöße gebe, mich als Anschlußsuchender zu outen, dachte ich, dann muß es ein Mensch sein auf meiner Wellenlänge, auf meinem Niveau.
Naja, ich bin fast immer überrascht worden, wie wenig der Mensch, den ich kennenlernte, mit dem zu tun hatte, was ich vielleicht von ihm dem Äußeren nach erwartet hätte. Und wenn er auch ganz anders war als ich, ich ihn nie mehr wiedersehen würde, begriff ich doch allmählich, daß mir der andere von seinem Leben Dinge erzählen konnte, die ich selber nie gesehen hätte, Gedanken nahebringen, die mir in meinem Horizont unerreichbar gewesen wären.
Stell Dir einfach vor, du bist nicht im übervölkerten Deutschland mit seinen Checklisten und Statussymbolen, sondern eine Hütte in Anatolien, und es kommt ein Wanderer vorbei. Denn da sind in unseren Städten genügend auf einsamem Weg, in den Cafes und Bars, in den Diskotheken und Spielsalons, in den Büros und Geschäften. Die sich - genau wie du selbst - fühlen, als wäre kein menschliches Wesen weit und breit. Die sich freuen, wenn jemand bei ihnen anklopft oder sie begrüßt als Mitlebender, Mitreisender in dieser unserer Zeit.
Es war einer der Tiefpunkte in meiner jüngeren Vergangenheit, da ich mir eine neue Wohnung suchen hatte müssen und mit Ach und Krach die ersten Notwendigkeiten hineingefrachtet hatte. Abends hielt ich es in zwischen den Kartons nicht mehr aus und trat auf den Gehsteig, wanderte in Richtung Zentrum. Ein Boy und zwei Mädels, sagen wir, zusammen etwa so alt wie ich
flanierten mir im Dunkel entgegen. Auf einem oder zwei Metern Abstand sagte die eine, etwas schüchtern, aber vernehmlich zu mir:
Willkommen in der Südstadt !
Und vorbei waren sie gezogen.