Auch nebenthematisch
Sosehr ich deine liberale und rationale Sicht dazu schätze, die es dir (und anderen) erlaubt, deinen Glauben und Gedanken der Aufklärung (scheinbar) zu vereinen bzw. sie im praktischen Leben nicht miteinander allzustark in Konflikt geraten zu lassen, sosehr finde (ich persönlich) es halt auch schade, dass Menschen nicht darüberhinaus weitersuchen. Ich kann ja nur für mich sprechen: Ich selbst war zwischen 13-16,17 religiös (und halt kinderreligiös bis 10; zwischen 10-13,14 atheistisch). In meiner gläubigen Zeit habe ich viel viel viel nachgedacht, gelesen, interpretiert, diskutiert, auseinandergenommen, wieder zusammengebaut usw. Ich wage es zu behaupten, dass ich das in einer Art und Weise gemacht habe, wie sie nur sehr wenige in diesem Alter (und auch später) machen - einfach, weil in mir schon seit eh und je dieser Drang nach Wissen und nach Wahrheit sehr sehr stark ist.
Ich kenne also das Gefühl, "zu glauben"; auch auf diese rationalere und "umschließendere" Art und Weise - sie ist schön, zweifellos, sie gibt Halt und hat auch was von dieser "umfassenden" Liebe anderen gegenüber. Andererseits hatte ich eben auch immer wieder Zweifel - die ich als "gesunden Glauben" als sehr gut angesehen hatte. Irgendwann in bei meiner Suche bin ich aber an den Punkt gekommen, wo die Diskrepanzen/Widersprüche und unlogischen Annahmen so groß wurden (und auch die Erklärungen, die ich fand und er-fand, um sie doch irgendwie zu rechtfertigen), dass ich einen neuen Ansatz übernahm: "Könnte es sein, dass es doch keinen Gott gibt und dass ich die Dinge, die ich um mich herum wahrnehme und die Konflikte, die entstehen; das Gefühl des Glaubens und des Wissens, das Gefühl der allumfassenden Liebe - dass sie falsch sind? Dass es bessere Erklärungen gibt, die keinen allmächtigen und allliebenden Gott erfordern?" Mit dem sicheren Gefühl, dass ein allliebender und allmächtiger Gott, der die Wahrheit liebt, diese Suche akzeptieren würde (und ich letzten Endes auch da ankommen würde, so er denn existiert), hab ich mich auf den Weg gemacht.
Gefunden habe ich "naturalistische" Erklärungen: psychische Phänomene, evolutive Erklärungen, soziale Modelle, erkenntnistheoretische, moralische, ethische Erklärungen, physikalische + biologische Beschreibungen unserer Welt und dessen, was auf ihr lebt.
Ich würde mir wünschen, dass jeder Mensch (so er die Kraft dazu hat) die einfache, kuschelige Erklärung gedanklich verlässt und sich aufmacht, neue Gedanken und Gefilde zu erkunden. Sich auf die "unmögliche" Möglichkeit einzulassen, dass es keinen Gott gibt; zu schauen, wie weit man damit kommt - und auch bei größeren Hindernissen weiterzugehen (Das trifft natürlich auf meine naturwissenschaftlichen und/oder atheistischen Kollegen natürlich genauso zu!! Über den Tellerrand schauen!).
Nicht, um damit super rumzuprotzen, sondern um eine stabile Basis zu haben, von der heraus man Urteile zu Fragestellungen ableiten kann, wie die des TE: Ich will doch die BESTmögliche Erklärung oder die BESTmögliche Grundlage, um mir Urteile zu bilden: Dazu muss ich meinen Grund immer und immer wieder testen. Ich finds halt einfach superschade, wenn eine Person, die ihre Bisexualität (oder was auch immer) aus dogmatischen Gründen nicht ausleben kann oder will (dogmatisch heisst hier "ohne nähere Begründung"). Gilt für alle anderen Fragen natürlich auch.
Letzten Endes hast du, zumindest für das praktische Leben, recht: Jeder Mensch muss das mit seiner Art zu glauben ausmachen. Aber als Christ musst du um das Seelenheil deiner Mitmenschen fürchten und das Beste für sie wollen. Das Beste ist Jesus. Also "darfst" du dich gewissermaßen aus rein ethischen Überlegungen heraus, eben nicht so einfach heraushalten. Du müsstest mit aller Verve a) nach der "richtigen" Interpretation suchen und b) deine Mitmenschen auf den richtigen Pfad bringen - und natürlich selbst immer wieder hinterfragen. Eine reine Abschiebung auf die Verantwortung des Einzelnen ist im Christentum eben NICHT vorgesehen, auch wenn du/man das nicht mag. Das ist ein Gedanke der Aufklärung.
Grüße
Soja