Die Sonne geht auf
Ach Sonne, schütt' das Kind nicht gleich mit dem Bade aus! Dein Ärger ist so alt, wie es Internetforen gibt. Ich frage mich immer wieder, was Menschen zum Posten bewegt, und ich stelle fest, dass es meistens nicht um die Sache, um den Inhalt geht, sondern um eine Art "Streicheln des Egos". Die Forumskultur hat für besonders resistente Fälle den Begriff des "Trolls" geprägt. Meine Geliebte und ich bezeichnen solche Verhaltensweisen – wie auch ähnliche jenseits der virtuellen Welt – als "Sandkastenspiele": "Mama, der Hans hat mir mein Sandelförmchen weggenommen!"
Wir alle lieben mehrheitlich die infantilen Sandkastenspiele. Und tun dabei ungeheuer gross und erwachsen. Da beginnen ein paar Leute einen interessanten Thread und dann kommt einer und schreibt: "ich finde eure Meinung total beschissen!". Was passiert? Die nächsten 200 Postings lang versuchen die anderen, diesen Zeitgenossen von seiner Meinung abzubringen. Es entsteht ein Wettbewerb des "Betroffen-Seins" oder des "Beleidigt-Seins" oder des "Gekränkt-Seins". "Mama, die Meike hat schon wieder meine Sandburg kaputt gemacht!". Jeder Poster hat natürlich besonders Recht. Und klar auch: jeder andere ist total missverstanden und hat das ja ganz anders gemeint.
Übrigens funktionieren die meisten Konflikte von Liebesbeziehungen nach dem selben Muster. Insofern ist es hier im Forum wie im wirklichen Leben, und man kann was über Mechanismen von Beziehungen zwischen Menschen lernen.
Zum Beispiel: Wie kommt man weiter? Solange man im Sandkasten sitzen bleibt, sicher nicht. Man muss aus dem Sandkasten heraussteigen. Eine neue Sicht auf die Beteiligten sich zulegen. Sich nicht darüber ärgern, dass aber alle anderen munter weiter fröhlich sandeln wollen. Der Ausstieg aus dem Sandkasten kann auch einsam machen. Und die, die im Sandkasten sitzen bleiben, halten einen hundertpro für total arrogant, dass man gewagt hat, nicht mehr beim Sandelspiel mitzuspielen.
Die Forumskultur hat einen, wie ich finde, netten Leitsatz für den Umgang mit Threads, die kaputtzugehen drohen, geprägt: "Don't feed the trolls!". Nach meiner Beobachtung ist die Befolgung dieses Rats das
Schwerste, was man einem Menschen 2006 in Mitteleuropa zumuten kann. Es gibt einen Reflex in uns, der sagt: der Troll will aber gefüttert werden!
Und jetzt überlege eine Sekunde: warum hast du deine Reaktion auf den Threadverlauf überhaupt gepostet? Das Forum gehört nicht dir, sondern den Joyclub-Betreibern. Was versprachst du dir von deiner Reaktion? Dass alle plötzlich aufhören, mit ihren Sandelschaufeln auf die Köpfe aller anderen im Sandkasten einzuschlagen? Das wäre nicht nur eine naive Erwartung, sondern verkennte auch die Motivation der Forumsschreiber. Und jetzt gehe einen Schritt weiter und überlege: warum antworte ich auf dein Posting? Und werde ganz offtopic dabei? Warum habe ich es
nötig, zu antworten?
Ich prüfe mich selbst: es geht um Toleranz. Ich möchte, dass hier solche Themen inhaltlich anspruchsvoll diskutiert werden können, ich möchte
nicht gegenüber Trolls Toleranz walten lassen. Ich geniesse Meinungsaustausch auf hohem Niveau, weil er mein Denken beflügelt und zu meinem geistigen Wohlbefinden beiträgt. Ich suche Gleichgesinnte, die auch keine Lust haben, Trolls zu füttern. Ich freue mich an jedem Poster, der auf ein destruktive Posting ganz klar seine Meinung kund tut, indem er – nicht postet.
Und nun siehst du, wie ich mich in meine eigenen Widersprüche verwickle, denn eigentlich – hätte ich dieses Posting nicht verfassen dürfen
.
stephensson
art_of_pain