Toleranz, Angst und gesellschaftliche Normen
Was habe ich nur mit dem Begriff "Barmherzigkeit" angerichtet?
@**re: nie käme es mir in den Sinn, von Nicht-BDSMlern "Barmherzigkeit" gegenüber uns zu fordern; der Gedanke war genau entgegengesetzt gemeint: statt von den "Anderen" Toleranz einzufordern, könnten
wir barmherzig sein, denn wir erkennen ihre Schwächen, ihre Ängste, die verhindern, dass sie uns so leben lassen können, wie wir leben wollen.
Das – diese Haltung der Barmherzigkeit – käme für mich aus einer Position der Stärke. Wohingegen Toleranz von
anderen einzufordern mir ein Eingeständnis der eigenen Schwäche erscheint, meine Position nicht erfolgreich verteidigen zu können.
Ich habe in meinen Überlegungen durchaus ein wenig polemisiert, wollte die herrschende Meinung zur Toleranz ein wenig gegen den Strich bürsten – solche Denkfiguren scheinen mir immer hilfreich, um den wahren Kern eines Begriffs in diesem Fall "Toleranz" – und seine Praxistauglichkeit abzuklopfen.
Alre, du schriebst: "Ich wünsche mir immer noch ein wenig mehr Toleranz...". Ich mir auch. Noch ein wenig viel mehr. Aber ich wollte ein wenig der Frage nachdenken, was wir eigentlich machen, wenn die Wünsche
nicht in Erfüllung gehen. Sollen wir uns dann in Selbstmitleid gebärden? Weil die Welt nicht so ist, wie sie sein solllte (nach unserer Meinung, natürlich)?
Ich lese nochmals Ssindossas Ausgangsposting: "....aber wenn es denn Menschen gefällt, warum sollte man das also nicht akzeptieren können??" – Die "man"s sind die Intoleranten. Ich versuchte, weiter oben die Frage zu beantworten, indem ich indirekt darauf hinwies, dass jede Gemeinschaft von Menschen sich dadurch konstituiert, dass sie einen
Normenrahmen bestimmt, innerhalb dessen sich jedes Mitglied der Gemeinschaft bewegen muss, ansonsten wird es sanktioniert oder ausgestossen. Das war schon
immer so. Und die Normen lassen sich nie sachlich begründen. Sie sind Setzungen im Sinne ursprünglicher Kulturleistungen. Das heisst, dass schon immer Menschen unglücklich gemacht wurden, weil sie nicht ins Schema passten. Der ganze nordamerikanische Kontinent wurde von solchen Europäern kolonialisiert, die hier nicht ins Schema passten (in diesem Fall ins religiöse Schema). Heute erst hörte ich von einer älteren katholischen Dame, dass vor fünfzig Jahren ihre Familie sie fast rausgeschmissen hätte, als sie erfuhr, dass die Dame in einen Katholiken verliebt war. Aber wenn es den beiden gefallen hat, sich zu verlieben, warum sollte man das nicht akzeptieren können? – Weil jede Gesellschaft in der Akzeptanz eines Normenverstosses die Gefahr des Beginns ihrer eigenen Auflösung vermutet, und dagegen setzt sie sich zur Wehr.
Weiterhin wollte ich auf die Asymmetrie der Toleranzforderung hinweisen. Wir fordern gerne von anderen die Toleranz, uns so leben zu lassen, wie wir wollen, sind aber sehr intolerant, wenn andere sich über unsere Haltung empören (Ich bin z.B. sehr intolerant gegenüber dem Papst, wenn ich seine Forderung mir vor Augen führe, in afrikanischen AIDS-Ländern Kondome zu verbieten). Und genau deshalb behaupte ich, dass wir mit der Forderung nach Toleranz nicht weiterkommen bei Menschen, die
unser Toleranzverständnis (unsere "Werte") nicht teilen. Warum tolerieren wir nicht, wenn eine Mutter eines neunjährigen Schulkindes BDSM als abartig ablehnt, weil sie sich vorstelllt, dass der Dom, der eben noch sehr SSC seine Sub blutig schlägt, morgen ihrem Kind Deutschunterricht gibt? Warum akzeptieren wir nicht ihre Angst, ihr mangelndes Vertrauen, dass unser Dom beide Bereiche trennen kann? Müssten wir nicht, statt von ihr Toleranz zu fordern, sie eher aufklären?
Und wired's "Leben und leben lassen" ist eben kein funktionierendes Prinzip, denn der Satz gründet darauf, dass wir vereinzelt in monadischen Hüllen leben würden und nichts miteinander zu tun haben. Dem ist aber nicht sol. Unser Leben greift immer schon in das der Anderen ein, ob wir wollen oder nicht.
Kyto hat zwei Begriffe genannt, die eine gewisse Alternative zur Toleranz darstellen: Respekt und Höflichkeit. Das gefällt mir sehr gut. Es sind aristokratische Prinzipien (Höflichkeit als das angemessene Verhalten am Hof). Sie haben den Vorzug vor Toleranz, dass sie
mich selbst eher in die Pflicht nehmen: ich muss zuerst gelernt haben, höflich und respektvoll zu sein, bevor ich das vom Anderen fordere. Und meist muss ich es gar nicht fordern. Die Erfahrung lehrt, dass, wenn
ichhöflich bin, man zumeist mir auch höflich begegnet. Damit weiche ich Schlägen aus, bevor ich sie überhaupt bekomme.
Âlre will mehr "praktische Bezug" unserer Überlegungen. Ich nehme ihr Beispiel: "plötzlich schreibt XYZ dazu: 'Ihr habt sie ja nicht mehr alle'". In einer höflichen Haltung zu verbleiben und dem Schlag auszuweichen, bevor er geführt wird, heisst hier für mich: das unsinnige, destruktive Posting eines Menschen mit einem Problem, das in unserem Rahmen nicht lösbar ist, zu übergehen und dazu zu schweigen. Dieses Übergehen ist kein Nachgeben, und damit, Alre, bin ich auch nicht der Klügere, der am Ende zum Dummen wird. Wenn alle, die höflich diskutieren, ein solches Posting mit Schweigen übergehen, wird es das letzte gewesen sein. Warum soll ich einem solchen Poster, dem ich, kennte ich ihn, vielleicht eine Therapie empfehlen würde, weil er ein armer Mensch ist, mit meiner Toleranzkeule drohen? Wenn ich mich beklage, hier im Forum gäbe es so viele Intolerante, klingt das für mich sehr nach Selbstmitleid, aber nicht nach Souveränität. In diesem Sinne schliesse ich mich Kytos dreifachem Wunsch: Gelassenheit, Mut und Weisheit – vorbehaltslos an.
stephensson
art_of_pain