Da muss ich Nys wirklich zustimmen.
Es wird sich fürchterlich entrüstet, aber gelesen werden die Bücher letzlich.
Sollte man da nicht von dieser unbegründeten Pauschalentsetztheit, die von der Boulevard-Presse gepusht wird, ein wenig Abstand nehmen und versuchen, sich auf ansatzweise neutralem Boden eine Meinung zu bilden?
"Eklig!" und "Pervers!" schreien, aber die Bücher trotzdem bis auf die letzte Seite fasziniert inhalieren. Das erinnert mich von der Grundhaltung her schon wieder einmal an die Gaffer am Unfallort, die angesichts der Katastrophe nicht in der Lage sind, Gas zu geben und statt dessen wie ferngesteuert glotzen.
Die Diskussion, die hier im Gang ist, spiegelt - und wie sollte es auch anders sein - die der breiten Masse sehr schön wider.
Im Bezug auf die "Schoßgebete", um die es ja hier eigentlich geht
, muss ich der Meinung von
@*******ater zustimmen.
Um die Bücher von Charlotte Roche zu verstehen, sollte man in der Lage sein, hinter all den Schleim, die F*ckerei und die Direktheit der Sprache zu blicken. Was wirklich wichtig ist, um ihre Heldinnen zu verstehen, das wird oft nur in Nebensätzen angedeutet.
Bei den Feuchtgebieten ist es die übelst dominante Mutter, die dem Mädchen die Wimpern mit der Schere abschneidet, weil sie es in ihrer infantilen Welt nicht erträgt, dass die Tochter mehr Komplimente für ihre Augen bekommt als sie selbst. Und, und das ist noch viel drastischer, die versucht, sich selbst und ihrem kleinen Sohn das Leben zu nehmen, indem sie sich und den Sohn auf den Küchenfußboden bettet und den Gashahn aufdreht. Die Protagonistin kommt dazu und findet die Mutter und den kleinen Bruder gerade noch rechtzeitig. Fortan stellt sie sich die Frage, wieso der Bruder es wert war, mit der Mutter gemeinsam zu sterben, sie aber zurückbleiben sollte.
DAS sind im Grunde drastische Momente, die weit über das Erzählen von Schleim, Eiter und Ekelbildern hinausgehen. Die menschlich viel schwerer wiegen und die von all den Körperlichkeiten nur überlagert werden. Die wahre Gänsehaut ist zumindest mir immer an den Stellen gekommen, wo die Protagonistin der Feuchtgebiete von ihrer Mutter erzählte.
Ähnlich bei den Schoßgebeten: das zentrale menschliche Unglück an dem Text ist ja der Unfall, der der Hauptfigur (und auch Charlotte Roche selbst) geschehen ist. Sie hat ihre drei Brüder bei einem Autounfall verloren - die Mutter überlebte nur knapp - und die Presse hat sie und ihre Familie nach diesem tragischen Ereignis förmlich vergewaltigt. Wenn beschrieben wird, wie ein Kamerateam eines TV-Boulevard-Magazins sich unerlaubt Zutritt zum Krankenzimmer verschafft, in dem die Mutter mit verbrannter Haut und verkohltem Haupthaar liegt, ruhig gestellt von schweren Sedativa, und wie das Team die Mutter vorsätzlich belügt und sie so dahin manipuliert, kurz nach dem Unfall ein Interview zu geben ...
Herrgott, DAS sind für mich Momente, in denen ich kotzen gehen möchte! Nicht die kleinen Beschreibungen von all dem Zeug, was sie mit ihrem Mann im Bett und im Puff betreibt. Geschenkt!
Ich nehme die Protagonistinnen - und in diesem Falle ist das vielfältig gleichzusetzen mit der Autorin - als ultimativ verletzlich wahr. Und zwar gerade aufgrund ihrer drastischen Erzählweise.