Doro, ich finde deine Idee ziemlich interessant.
Unsere Gesellschaft hat sich anonymisiert und das macht die Alltagswelt für viele so eintönig, langweilig und grau. Man ignoriert sich und stört sich gegenseitig so wenig wie möglich. Was bedeutet dieses Stören? Es bedeutet schlicht Gefühle beim anderen hervorzurufen. In der Öffentlichkeit hat man nicht zu fühlen. Man redet mit Fremden so neutral und sachlich wie möglich, genauso formuliert man Briefe an Behörden, Geschäftspartner und die Arbeit.
Sicherlich wird man einem das Hervorrufen positiver Gefühle eher verzeihen als das von negativen, aber auch hier stößt man auf eine gewisse Irritation. Fragt man dich nach dem Weg und du antwortest mit ein paar freundlichen Sätzen mehr als nötig, wird dein Gesprächspartner wahrscheinlich lächeln und erröten. Weil er sich an ein mutigeres Kind erinnert fühlt, das auch vor Fremden Emotionen zulässt. Weil es nicht weiß, dass man das nicht tut. Ein Übergang in den privaten Bereich ist immerhin möglich. Dazu redet man mit jemand bis dato Fremden möglichst viel Belangloses, Unemotionales und lässt das ganze langsam etwas emotionaler und persönlicher werden. Die erste Phase heißt dann Smalltalk. Schlussendlich ergibt sich ein privater Bereich, den man mit seinem neuen Freund teilt. Die Anonymität ist heilig, wehe dem der sie verletzt! Aber selbst dann wird man noch möglichst sachlich zurecht gewiesen. Oder eben auch nicht, schließlich hat man selbst die Anonymität zuerst verletzt.
Gott sei dank gibt es für viele noch die Möglichkeit beim Autofahren negativ emotional in der Öffentlichkeit zu sein, schließlich kann man in seiner meterlangen Blechschale immer noch anonym dabei bleiben. Auch Krankheit kann andere stören, deswegen ist man krank auch gefälligst im Krankenhaus oder daheim, jedenfalls wo einen niemand sehen kann.
Selbst am gesellschaftlichen Umgang mit Drogen bemerkt man ein pro Anonymität. Legal sind Alkohol und Tabak. Anerkannt ist es Alkohol in solchen Maßen zu trinken, wie man die Anonymität eines anderen nicht durch den eigenen Rausch verletzt, etwa durch lautes Grölen, das stören könnte. Alkohol legt einige Areale im Gehirn lahm, macht also etwas stumpfer und vernichtet damit den feingeistigen Rest des Menschen. Kurz: Wer angetrunken ist, stört sich nicht an einer grauen Wand.
Tabak darf in Bayern nicht einmal mehr in Kneipen konsumiert werden, man könnte schließlich die Gesundheit und damit den Privatbereich, die Anonymität eines Nichtrauchers verletzten. Auch wenn ihn niemand in die Kneipe gezwungen hat. Ansonsten ist Tabak voll okay, schließlich verändert er nicht das Auftreten der Leute und damit auch nicht die Anonymität der anderen. Das selbe gilt für Koffein.
Besonders gruselig erscheinen der Gesellschaft alle illegalen Drogen, die teilweise sogar kreativitätsfördernd sein sollen und nicht unbedingt zu einem solch asozialen Rausch führen wie Alkohol. Offenbar sind grölende Randalierer noch erträglicher als ein öffentlich kreativer Mensch. Natürlich ist der Umgang mit Drogen auch historisch bedingt, aber das war der deutsche Militarismus beispielsweise auch und heutzutage möchte man ja nur noch mit Fußbällen auf andere Länder schießen.
Dem Jugendlichen im Bus könnte man seinen schlechten Hip Hop aus dem Handy wohl auch eher verzeihen, wenn man nicht wüsste, dass er nur und ausschließlich böswillig Musik hört, um die Anonymität zu verletzten. Ein Pubertierender hat schließlich das Bedürfnis nach Provokation. Wenn ich im Privaten alles darf außer Gesetze zu brechen und in der Öffentlichkeit auf Gesetze und die Anonymität achten muss, gibt es nur zwei Möglichkeiten zu provozieren: Gesetze brechen oder die Anonymität verletzten.
Die Erfahrung des Dritten Reichs bzw. der DDR hat gezeigt, dass das Gegenteil noch schlimmer ist. (Das gilt nicht nur für Deutschland aber hier insbesondere) Beide totalitären Systeme haben versucht eine homogene Gesellschaft zu generieren. Eine Gesellschaft mit möglichst wenigen Unterschieden zwischen ihren Mitgliedern. Eine Gesellschaft von lauter Gleichen hat es nicht nötig anonym zu sein. Wen sollte man mit seinen Freizeitbeschäftigungen, auch mit seiner Kunst, denn stören, wenn sie alle gut finden? Hitler war bekanntlich ein Künstlertyp und wollte aus Berlin die architektonische Kunst-Bombast-Stadt Germania machen. In der homogenen Gesellschaft ist nichts grau und leer, sondern alles voller Kunst wie für ein Kind. Wie sich im Nachhinein herausstellen sollte, hat es jedoch nicht allzu gut funktioniert den Menschen zu erklären was sie wollen sollen. Weder das Modell der Rasse noch das der Klasse war dafür sinnvoll. Von Unterdrückung und Menschenvernichtung oder Unterdrückung und Stasi ganz zu schweigen.
Heutige Menschen, die sich nach einer homogenen Gesellschaft und damit nach einer sinnvollen, spaßigen und künstlerischen Öffentlichkeit sehnen, gehen intuitiv besser vor. Sie teilen sich, mehr oder weniger strikt, nach Vorlieben, Vorstellung von Kunst und Spaß, oder Weltanschauung. (Zumindest letzteres haben die deutschen Totalitärstaaten richtig gemacht) Man findet diese Menschen in Parteien, Vergnügungsanstalten, in Vereinen, bei kirchlich/religiösen Ereignissen (Mekka, Weltjugendtag, usw.) oder Festivals ihrer Subkulturen (Gothic, Metal, Punk, Reggae, usw.) Für den kompletten, öffentlichen Alltag scheint die homogene Gesellschaft allerdings nicht geeignet und nicht einmal mit schlimmster Machtausübung zu erkaufen.
Deswegen nimmt der Deutsche seine Anonymität so ernst, auch wenn sie etwas unglücklich macht. Deswegen gibt es hier die (klischeehaft?) meisten Nachbarschaftskriege. Deswegen schaut der Deutsche in der Öffentlichkeit so gern griesgrämig. Deswegen ist es etwas so außergewöhnliches, wenn man sich zur WM mal öffentlich freuen darf. Weil fast ein ganzes Land plötzlich temporär homogen ist. Für das homogene Fußballdeutschland spielt plötzlich auch das Stören von Nicht-Fußballfans plötzlich keine Rolle mehr. Wie war das? Schutz von Minderheiten?
Wenn Politiker konservative bis rechte Wähler anziehen wollen, erklären sie gerne mal „Multikulti“ für gescheitert. Haben sie damit recht? Ja und nein. Im öffentlichen Bereich mit Sicherheit. Hier findet nämlich fast überhaupt keine Kultur statt. Sie darf ja nicht. Außer vielleicht mit Genehmigung und dann bestimmt nicht jeder daher Gelaufene.
Im eng abgesteckten privaten Bereich ist jedoch schon einiges multimäßig möglich. Man höre und staune, ich war schon bei Italienern, Türken, Urbayern, Armen, Reichen, Sportlern, Rockern, Yuppies, Hoppern usw. zu Gast. Das macht die Öffentlichkeit jedoch nicht interessanter, künstlerischer und die Menschen glücklicher.
Allerdings könnte man versuchen eine heterogene Gesellschaft aufzubauen. Eine Gesellschaft, die sich schlicht und ergreifend nicht ganz so schnell gestört fühlt wie die anonyme, dabei aber jede Vorliebe zulässt. Natürlich muss es Grenzen geben. Ich kann nicht bis um vier Uhr morgens mit voll aufgedrehten E-Gitarren, Bass und Schlagzeug Death Metal in meinem Wohnzimmer spielen, wenn mein Nachbar um fünf aufstehen muss. Aber man kann mich grundsätzlich eine Zeit lang spielen lassen. Gegenwärtig ist das nicht der Fall. Viele junge Bands scheitern schlicht am Proberaum.
Und wieso lässt man nicht den Straßenmusiker am Nachmittag in der Fußgängerzone spielen wie er will? Warum braucht er eine Genehmigung? Warum kann ich nicht einfach mit Leute auf der Straße eine Jamsession machen? Wieso komm ich mir blöd vor, wenn ich mich vor den Supermarkt stell und singe? Vielleicht möglicherweise empfindet das ganze jemand ja sogar in irgendeiner Weise positiv oder gar unterhaltend. Obwohl die Musik nicht von ihm stammt. Und obwohl wir uns in der gefühllosen Öffentlichkeit befinden! Wieso kann ich nicht meinen ultraleichten Modellflieger am Stadtplatz fliegen lassen? Wieso muss ich mich damit auf ein Feld verziehen, wo ihn auch ja keiner sehen kann? Falls jemandem die totbringenden 80 Gramm auf den Kopf fallen? Warum ist ungenehmigtes Graffiti Sachbeschädigung? Egal ob es wirklich schön ist oder nur eine obszöne Schmierei, jedes, wirklich jedes Graffiti ist interessanter als eine graue Fläche! Wieso muss ich – um nicht als Irre zu gelten – für ein Rollenspiel in den Wald fahren? Wieso kann ich nicht einfach auf der Straße ein Theaterstück aufführen? Es könnte so spannend sein, wenn für den unwissenden Betrachter Fiktion wie Realität erscheint. Gerade das würde die performative, realitätskonstruierende Kraft der Sprache stark zur Geltung bringen!
Aber nicht in der anonymen Gesellschaft. Man würde uns – je nach Art des Theaterstücks – kurz irritiert ansehen und anschließend ignorieren oder gleich großräumig umgehen. Man spricht ja auch nicht mit Fremden. Vor allem nicht, wenn sie sich irgendwie auffällig gebärden.
Diese Welt kann ein wunderbarer Spielplatz sein, man muss nur... an der Betonschicht darüber etwas kratzen. Und der Jugendliche, der jetzt nicht mal mehr gegen die Anonymität rebellieren kann? Naja, er könnte weiter an den Grenzen des Zumutbaren kratzen oder vielleicht sogar künstlerisch provozieren, indem er Konventionen bricht? Davon hätte die Menschheit doch auch mehr als von seinem Handy. Trotzdem nervt mich sein Rap-Gedudel nicht mehr. Er hört ja nicht mehr aus Provokation. Und den Lautsprecher im Supermarkt hab ich auch noch nie angeschnauzt, obwohl Popmusik rauskommt. Und zur Not fang ich an zu singen.