Die Vorstellungen von Sexualität
Ich glaube, eine der möglichen Wurzeln des "Problems" könnte in der tradierten Vorstellung von Sexualität begründet sein, der auch ich sehr lange angehangen habe: Sexualität sei eine Funktion der Fortpflanzung - so, wie man es mir in der Schule beigebracht hat, und wie es auch die christliche Sexualmoral sieht. Der Sinn jeder sexuellen Betätigung wäre, daß Samen in die Vagina kommt, und dort eines, manchmal auch mehrere Eizellen befruchtet, und dann eine Familie dabei herauskommt.
Von dieser Vorstellung ausgehend, definieren und empfinden wir heute noch als "pervers", was von diesem geraden Weg von der Samenzelle zur Familiengründung abweicht. Nach strenger christlicher Sexualmoral ist Sex sowieso nur erlaubt, wenn man dabei Kinder zeugen will. Auch wen man es lockerer sieht - Vaginalverkehr und Samenerguß stehen immer noch im Mittelpunkt, und alles andere ist mehr oder weniger pervers - verkehrt, falsch, abwegig. Auch den Ausdruck "Deviation" liest man noch gelegentlich. Umgekehrt bezeichnen auch viele, die einen weiteren sexuellen Horizont haben, sich selbst und ihre Vorlieben gerne als "pervers", die von diesem Leitbild der "vaginalen Insemination" abweichen.
Dieses tradierte Bild hat übrigens eine interessante Schwachstelle: wenn die Sexualität des Menschen tatsächlich zu diesem Zweck der Fortpflanzung "zweckdienlich" eingerichtet wäre - dann wäre der weibliche Orgasmus eigentlich ziemlich überflüssig, denn die befruchtungsfähigen Eizellen kommen "auch so" in die entsprechende Startposition der Familiengründung. Dann könnte der weibliche Orgamus lediglich eine Art Belohnungs- oder Lockfunktion haben, damit die Frau sich auf dieses Spielchen einlässt. Dem wiederrum wäre entgegenzuhalten, warum der weibliche Orgasmus dann so eingerichtet ist, daß er auch anders, als durch vaginale Penetration zu erreichen ist ... ?
Es gibt aber auch eine rationalere Sichtweise auf die Sexualität - die der Humanbiologie und der Psychologie, der Sexualwissenschaft.
Man weiß schon seit langen, daß sexuelle Erregung und Lustempfinden im wesentlichen durch rhythymische Berührungen der Haut erzeugt werden, die bei den Schleimhäuten: Mund, After, "Genitalien" und den benachbarten Bereichen am stärksten sind. Weitere "erogene Zonen" wie die Brustwarzen kommen hinzu. Diese Erregung und Lustempfindung kann zwar zum Orgasmus führen - muß aber nicht.
Unsere Eigenschaften - und eben auch die Eigenschaften unserer Sexualität - haben wir nicht, weil irgendjemand - Gott, die Vorsehung, die Natur usw. - das "so eingerichtet" hätte, sondern weil sie durch die Evolution noch nicht beseitigt sind, keinen evolutionären Nachteil darstellen.
Erst im Verlauf der Pubertät entsteht das, was man die "genitale Fixierung" nennt: der Orgasmus ist neu, und durch seine Intensität sensationell, zieht das Interesse auf sich - die Beeinflussung durch die Umwelt kommt hinzu, die dem jungen Menschen in vielfältiger Art und Weise dahingehend beeinflußt, daß es gerade auf den Orgasmus ankomme - von den Moralpredigten des Pfarrers von wegen der neuen Münder für den Tisch des Herrn bis hin zum Theresa-Orlowski-geprüften Porno.
Diese Fixierung muß aber nicht bei jedem den durchschlagenden Erfolg haben, den sich Kirchen wie Pornoindustrie so wünschen würden. Sie bleibt wohl bei vielen hinter dem Planziel zurück - und für die ist der Orgasmus dann einfach nicht so wichtig. Auch ich bin auch einer von denen. Und das ist keine Frage von Impotenz oder mangelnder Libido - je nachdem, wenn ich "spritzgeil" bin, habe ich noch mit 48 Jahren 5-10 Orgasmen am Tag. Aber wesentlich öfter ist es so, daß ich zwar sehr lange Sex habe - aber höchstens 1-2 x Orgasmen, wenn überhaupt. Sehr oft habe ich gar keinen - und damit auch kein Problem.
Das Problem entsteht durch einen ziemlich erheblichen diesbezüglichen "Leistungsdruck" durch diejenigen Sexualpartner - und das sind die meisten - bei denen diese Fixierung stärker ausgeprägt ist. Die meinen dann, ich hätte keinen Spaß gehabt. Das ist insbesondere beim Beziehungssex sehr unangenehm, da in sexuellen Beziehungen ständig gegenseitige Rückschlüsse zwischen Sexualität und Emotionalität erfolgen: "Du liebst mich nicht!" (oder jemand anderen, oder nur Dich selbst ... usw, usw).
Dieses "Beziehungsproblem" kann man aber relativ einfach lösen, wenn man zuerst einmal sich selbst als "Betroffener" mit diesen Dingen auseinandersetzt, und es dann dem Beziehungspartner in aller Ruhe verklickert. Meine einfache Formel dabei ist es auch heute noch: "Sex ist mehr als ein Hindernislauf zum Orgasmus!" Und wenn man sich dann gemeinsam ein wenig - oder auch ein wenig mehr - von dem Leistungsdruck befreit, den diese Fixiertheit auf den Orgasmus mit sich bringt, kann das nicht nur die gemeinsame Sexualität, sondern auch das "Liebesleben" beträchtlich entlasten - und im Ergebnis dann bereichern, weil man buchstäblich "befreiter" und "lustvoller" an den Sex herangeht, und nicht mehr ständig von dem Zwang geleitet wird, beidseitige Orgasmen "produzieren" zu müssen.