@jens_gaby, wir22_36 und alle anderen
Hallo,
Ich finde es außerordentlich gut, dass wieder Schwung in diese Diskussion gekommen ist. Offensichtlich besteht hier enormer Gesprächsbedarf - und das ist auch gut so! Meiner Meinung nach bringt es hier niemanden weiter, sich hier gegenseitig zu diskreditieren.
Eigentlich geht es bei diesem Thema um viel mehr - nämlich um eine Sichtweise von Mann und Frau in der Gesellschaft allgemein.
Ich wende mich in besonderer Weise an die Diskussionsteilnehmer, die stöckelnde Männer wohl besonders lustig finden. Dabei ist dieses Thema toternst und kann auf viele andere Situationen übertragen werden (Unterwäsche, Röcke, Strumpfhosen und allgemein Kleidung, aber auch auf das Wesen eines Menschen allgemein und sein Innenleben). Leider wird dieses Thema tabuisiert, weil es nach der derzeitigen Auffassung von Mann und Frau, von männlich und weiblich, von herrlich und dämlich einfach nicht sein kann und darf. Mit dieser Sicht der Geschlechter steht sich die Gesellschaft aber in Richtung echter Gleichberechtigung selbst im Weg.
Ich versuche das mal zu erklären. Der überwiegende Teil unserer Gesellschaft geht davon aus, dass Männer und Frauen von ihrem Wesen her eher gegensätzlich ausgerichtet sind. Mit anderen Worten: Der Mann hat gewisse Eigenschaften und tut gewisse Dinge einfach nicht. Genauso verhält es sich nach dieser Sicht bei der Frau. Diese Weltsicht hat in unserer Kultur die Rollenbilder von Mann und Frau konserviert und hält sich auch heute hartnäckig. Allerdings bekommt dieses Geschechterrollendogma zunehmend Risse, da es sich auf immer weniger Menschen anwenden lässt. Nach diesem Dogma schlagen alle aus der Art, die nicht heterosexuell sind, die sich nicht geschlechterrollenkonform kleiden, die nicht ein rollentypisches Hobby haben, usw. Mit dem Eindringen der Frauen in Männerdomänen aller Art wird diese Weltsicht auf den Kopf gestellt.
Wenn jetzt dieses Weltbild, dass über Jahrtausende Bestandteil der Erziehung war, auf immer mehr Menschen nicht zutrifft, dann müssen einem doch Zweifel an der Richtigkeit eben dieser Sicht kommen, oder? Z. B. ein heterosexueller Mann in Stöckelschuhen beißt sich doch damit total. Genau diese Frage haben sic vor ca. 35 Jahren (in der heißen Phase der Emanzipation der Frau) einige Forscher gestellt. Ihnen fiel auf, dass Frauen anscheinend nicht von Geburt an schicksalhaft für Heim und Herd zuständig sind, sondern dass dies von der Gesellschaft den Frauen quasi als Lebenszweck oktroyiert wurde. Wohlgemerkt von der Gesellschaft oktroyiert und nicht von der Natur. Damit war die so genannte "Genderforschung" geboren, die v. a. in Amerika das Wesen von Mann und Frau erstmals genauer untersuchte. Zuerst wurde diese Forschungsdisziplin als Spinnerei abgetan, stellte sie doch das bisherige Weltbild von Männern, die eben männlich sind und von Frauen, die eben fraulich sind, komplett auf den Kopf. Doch heute ist diese Forschung fester Bestandteil der Sozialpsychologie und die Kritiker sind verstummt. Anhand von Untersuchungen stellte sich nämlich heraus, dass z. B. das Wesen des Mannes fast völlig unabhängig von vermeintlich maskulinen Wesenszügen und Verhaltensweisen ist. Genauso verhält es sich bei den Frauen. Ebenso stellte sich heraus, dass das Wesen einer Person nichts mit ihrer sexuellen Ausrichtung zu tun hat. Es gibt danach also schwule Machos und lesbische Tussies.
Diese Erkenntnisse machen die Meinung unhaltbar, dass die Geschlechter gewisse Dinge tun, oder eben nicht tun. Sie geben jetzt Antwort darauf, warum z. B. ein gewisser Prozentsatz der Männer Stöckelschuhe anzieht, oder warum manche Frauen eben gerne LKW fahren. Dies war mit dem herkömmlichen Rollenbild einfach nicht zu erklären. Der Genderansatz geht nämlich davon aus, dass für jeden Menschen nicht sein anatomisches Geschlecht sein Wesen festlegt, sondern dass jeder Mensch individuell Wesenszüge besitzt. Danach ist es also falsch, dass Männer und Frauen jeweils getrennte Eigenschaften besitzen. Es ist vielmehr so, dass es zwei Eigenschaftspole – nämlich nach unserer Sprache männlich und weiblich - gibt und dazwischen eine Spannbreite. Auf dieser Spannbreite hat jeder Mensch Eigenschaften, die mal mehr, mal weniger in der Nähe eines Pols liegen. Diese Eigenschaften besitzt die Person jedoch ausdrücklich unabhängig von ihrem Geschlecht. Es kann damit also auch männliche Personen geben, die gerne mit Puppen spielen, bzw. weibliche, die lieber Matchbox-Autos als Spielzeug haben. Genauso verhält es sich eben mit allen anderen Dingen und damit auch mit Männern, die eben gerne Stöckelschuhe tragen. Es hat mit dem Geschlecht nichts zu tun. Meiner Meinung nach liegt diese neue Weltsicht schon viel näher an der gesellschaftlichen Wahrheit, weil sie auf ungewöhnliche Eigenschaftskonstellationen Antworten gibt. Es scheint also tatsächlich so zu sein, dass eigentlich jede Frau irgendwo maskuline Eigenschaften besitzt und eigentlich jeder Mann auch feminine Eigenschaften hat. Dies bezieht sich auf alle Lebensbereiche und nicht ausdrücklich auf Kleidung. Wer mir das nicht glauben will, der soll es in den Fachbüchern einfach nachlesen. Die Bücher von Robert Heasley sind hierzu besonders interessant. Nach seiner Kategorisierung wäre ein stöckelnder Mann ein „stylistic straight-queer“. Ganz grob wird das Ganze auch bei Wikipedia umrissen (Metrosexualität, Gender).
Wenn man sich diese wohl realistischere Weltsicht einmal auf der Zunge zergehen lässt, dann dürfte einem beim Anblick eines Mannes in High Heels eigentlich das Lachen vergehen. Er macht lediglich etwas, was seinem Eigenschaftspool (der vielleicht ungewöhnlich ist) entspricht. Er ist dabei nicht mehr und nicht weniger ein Mann. Aber das ist die Realität, die jeder sich verinnerlichen sollte. Noch einmal: Geschlecht und Wesen sind unabhängig. Also kann ein stöckelnder Mann gar nicht unmännlich sein, weil er individuell ist. Und Äpfel lassen sich bekanntermaßen nicht mit Birnen vergleichen. Nebenbei gebühren es der Anstand, die Toleranz und der Respekt, nicht über andere Personen herzuziehen bzw. zu lachen. Man selbst will ja auch nicht wegen einer Sache ausgelacht werden.
Das Problem ist aber, dass die meisten Menschen diese Wahrheit ignorieren. Sie tun es oft unbewusst, da sie nach der alten Weltsicht erzogen worden sind, oder es einfach nicht besser wissen. Erstere sollten einmal ihre offenbar nicht richtige Sicht der Dinge mit dem neuen Wissen überdenken. Es gibt jedoch auch weite Kreise in der Gesellschaft, die bewusst vom Gender einer Person nichts wissen wollen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Zum einen bringt der Genderansatz die gängigen und platten Klischees über Menschen zum Einsturz. Zum Anderen erlaubt er es nicht mehr, dass der Heterosexualität in irgendeiner Weise besser dasteht, als Homosexualität, da die sexuelle Ausrichtung sich am Wesen einer Person nicht mehr festmachen lässt und derartige Klischees ebenfalls nicht mehr haltbar sind. Drittens befreit dieser Ansatz jede Person von gesellschaftlichen Rollenerwartungen an sie. Vielen gefällt das nicht, weil die alte Weltsicht nicht nur einfacher ist (gutes altes Schwarz-Weiß-Denken), sondern sie sich auch als „Normalos“ in der Gesellschaft gegenüber den Anderen besser stellen wollen. Dabei übersehen gerade Männer, dass sie sich durch diese Denkweise in ihrer Freiheit selbst beschneiden. Frauen sind da etwas fortschrittlicher – aber oft nur gegenüber sich selbst. Psychologische Studien haben erwiesen, dass gerade Männer nicht zu ihren Typ stehen, der aus ihrem persönlichen Eigenschaftspool besteht. Um ihre vermeintliche Männlichkeit nicht von anderen anzweifeln zu lassen, unterdrücken sie zumindest nach außen Wesenszüge, die dem Männlichkeitsideal nicht entsprechen. Beispiele wären hier das Tragen von Dessous nur zu Hause und ohne das Wissen anderer, das Verschweigen homosexueller Neigungen, Unterdrückung von Gefühlen und Emotionen, usw. Diese ständige Zurückhaltung der eigenen Persönlichkeit ist nicht nur unnötig, sondern macht auch krank. Wenn sich jemand nicht ausleben kann, dann wird er psychische Probleme bekommen und tatsächlich: viele handfeste Burschen gehen zum Psychiater, weil sie ihre unterdrückte feminine Seite nicht ausleben können oder wollen, um in der Gruppe besser anzukommen. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Die Kosten dieser Situation trägt die Allgemeinheit z. B. durch höhere Krankenkassenbeiträge.
Die Medien um uns herum und die Konsumindustrie verstärken den Druck auf die Männer noch. In jeder Fernsehsendung wird auf männlichen und weiblichen Unterschieden herumgehackt, statt einmal nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Die Werbung gibt uns Geschlechterklischees vor, die als Ideal hochstilisiert werden aber unerreichbar sind (siehe Magermodels als weibliches Ideal). Das Ganze hat System. Konsumtechnisch sind diese Klischees viel besser berechenbar, als individuelle Menschen. Jeder kennt diese Klischees vom sich räkelnden Dessousmodel an der Bushaltestelle und daneben vom smarten Geschäftsmann. Wer wird dem eigentlich gerecht? Wohl die wenigsten. Viele wissen nicht, wie die „Geschlechterfarben“ rosa und hellblau zustande kamen. Das Ganze wurde 1906 in einem Krankenhaus in LA eingeführt, um Neugeborene besser zu unterscheiden. Heute trauen sich deswegen viele Männer nicht, ein rosafarbenes Hemd zu kaufen.
Aus allen diesen Gründen sollten die Leser dieses Beitrags sich einmal ein paar sozialkritische Gedanken machen. Ein Genetiker würde sagen, Mann und Frau sind nur zu 50 % verschieden. Das stimmt, wenn man die Chromosomensätze vergleicht (XX zu XY). Aber es will mir einfach nicht in den Kopf, warum die Gesellschaft dem Mann im übertragenen Sinn unbedingt als Ideal ein YY geben will. Schon Männer mit einem Chromosomensatz in dieser Richtung (Klinefelter-Syndrom XYY) gelten bekanntlich als schwer behindert.
Also mein Rat an alle halbwegs Intelligenten. Hört auf, in diesen falschen Geschlechterkategorien zu denken. Wissenschaftlich erwiesen werden sie den meisten Menschen nicht gerecht. Im Endeffekt würde dies auch den Frauen auf ihrem Weg zur Gleichberechtigung helfen und zu einer pluralistischen Gesellschaft beitragen (siehe Grundgesetz). Wer das nicht begreifen will, der wird bald von der Realität eingeholt werden. Rollenkonformes Verhalten löst sich immer mehr auf und ich bin stolz, dazu beitragen zu können. Es ist so überflüssig, wie ein Kropf.
Also, wer diese Zeilen überdacht und begriffen hat, der sollte dies bei seinen Bekannten weiter tragen. In der letzten Konsequenz bringt uns das alle ein Stückchen weiter. Vielleicht verliert der ein oder andere Mann dadurch seine Angst gegenüber sich selbst und kann zu seiner Person besser stehen. Es wäre wünschenswert und gegenüber der Gesellschaft ehrlicher. Vielleicht hilft es auch, dass sich ein paar mehr Männer mit ihren Absatzschuhen aus dem Haus trauen und damit die Realität immer offensichtlicher machen.
Wer nach dem Lesen dieser Zeilen immer noch darüber lacht, sollte mal seine Toleranz überdenken. Aber wie gesagt, jeder hat was Feminines und was Maskulines an sich. Wer es gerne weiter unterdrücken möchte – bitte! Ich tue es nicht und den Lachern unter den Menschen ist nach einer kurzen Konfrontation mit mir das Lachen vergangen.
Grüße
André