Peer, die anderen und ich
Vor drei Jahren war ich auf der Suche nach einem schönen Krimi-Plot und als ich ihn zusammen hatte, überlegte ich, wie ich die passenden Protagonisten zusammen bekommen könnte.
Ich erinnere mich wie heute, dass ich auf der Bettkante meines Sohnes saß und ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen wollte: «Josefine, der Bär und Peer...»
Peer war ein kleiner Junge im Rollstuhl und mir war schlagartig klar, dass Peer, mein Peer, der Hauptdarsteller in meines Romans werden würde.
Anfangs war alles easy. Er wohnte in einem Zechenhaus in Essen, hatte seine Wohnung barrierefrei eingerichtet, es gab eine Rampe, die er nutzte, um die vier Stufen zum Haus hochzufahren. Alles war wie vorgesehen, doch im Leben eines Protagonisten kommt der Tag, wo er (wirklich!) Gestalt annimmt und wo er anfängt, sein eigenes Ding zu drehen:
«Vielleicht wird es irgendwann besser?», fragte Janina.
«Nein. Eine Querschnittlähmung lässt sich nicht heilen. Man muss sich damit abfinden.»
«Sind wirklich nur die Beine gelähmt?», wollte Janina wissen.
Peer grinste. «Du willst wissen, ob ich noch Sex machen kann.»
«Blödmann, ich meine –» sie dachte nach.
«Ob ich zum Pinkeln auf die Toilette gehe?»
«Ja. Hattest du nicht gesagt, dass deine Toilette umgebaut werden muss?»
«Die Türen wurden verbreitert, ich kann jetzt mit dem Rolli ins Badezimmer fahren und unter die Dusche.»
«Wie hast du vorher gelebt?», wollte Janina wissen. Sie wusste nicht viel über ihren Nachbarn, erinnerte sich aber, auf seinem Schreibtisch ein Foto von einem Mädchen mit langen blonden Haaren gesehen zu haben. Ob sie Peers Freundin war?
«Ich war drei Monate im Krankenhaus», erzählte er, «danach ein halbes Jahr in der Reha und bin direkt hierher gezogen.»
«Hast du keine Familie, die sich um dich kümmert?», fragte Janina.
Peer lachte. «Ich bin doch kein Pflegefall.»
Nein. Auf dem Foto hatte das Mädchen ihren Kopf an die Schulter eines Mannes gelehnt und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass das Peer war – vor seinem Unfall.
Fortan wurde Peer mein heimlicher Held, aber von diesem Moment wurde er schwer handelbar. Ich hatte einfach zu wenig Ahnung von seiner Behinderung.
Vor einem Monat sprang er sehr selbstbewusst aus meinem Krimi heraus. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich an einer Erotik-Anthologie arbeite und er wollte unbedingt mitmachen.
«Was du?», fragte ich -- der Krimi war zu elf Achtzehnteln fertig. Seinetwegen hatte ich den Plot in Kapitel 16 und 17 umgeschrieben, denn er sperrte sich dagegen, sich in Janina zu verlieben-- er behauptete steif uns fest, seine Freundin hieße Yvonne.
«Yvonne? Das ist absurd», erwiderte ich. Yvonne hatte bis dato eine Nebenrolle -- eine Angestellte der medizinischen Fakultät an der Bochumer Ruhruniversität. Sie begleitete ihren Professor auf einer Tagung nach Murcia, mehr nicht.
«Wohl mehr!»
«Was willst du von ihr?»
«Sie hat mir ihren Pulli geliehen und ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier geschrieben.»
«Herrje, Peer!»
Ich spürte, er war auf einem Abweg, die Trennung, sagte er, täte ihm weh, er meinte sogar, er wolle ganz aussteigen.
«Sorry, sorry, sorry», schrie ich ihn an. «Ich bin kein Unmensch» – und versprach, Yvonne bei der erstbesten Gelegenheit mitzunehmen, in seine Traumwelt einzuflechten.
Er sagte: «schreib es nieder oder ich vergesse mich!»
UI! Mit Erotik hatte ich bis dato nicht viel am Kopf. In echt, ich hatte Probleme, mich überhaupt bei Joyclub.de zu registrieren.
Okay, jetzt bin ich drin. Ohne Vorlieben, ohne Stress, schaut nach.
Peer war außer sich vor Freude. «Eine ganze Rubrik Leben mit Behinderung? -- wow, wow, wow!»
«Junge!» habe ich mit ihm geschimpft. Und Leute: ich bin einfach fertig!
Er «geht» an Krücken, ist querschnittsgelähmt, muss kathedern, hat einen künstlichen Darmausgang. HELP!!! Passt das zusammen?
Er zieht sein Ding durch. Ich lese, er hat sich Cialis besorgt, eingeworfen, will mit Yvonne Sex machen. Okay, okay, denke ich. Er arbeitet im biochemischen Labor der Uni. Er wird wissen, was er tut (und woher er es bekommt!). Er schaut mich an und sagt: «schreibst du oder schreibe ich die Story?»
Zum ersten Mal wird mir mulmig. «Warte», sage ich. «Du sagst, du gehst an Krücken?»
Er guckt genervt: «Krücken, Gehständer – wie du willst!»
AHA. «Aber warum Kathedern?», will ich wissen. «Und warum ein künstlicher Darmausgang? - Das passt doch alles nicht zusammen.»
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Sorge, ihm zu nahe getreten zu sein. Er senkte seinen Blick.
«Bitte Verzeih!», sagte ich.
Er gab den Rädern seines Rollstuhls einen Stoß, kurvte hinaus, er sah sich noch einmal fragend um: «Du schaffst das. Du wirst es schaffen. Du wirst jemanden finden, der dir Antwort geben kann.»
«Peer, bleib hier!», rief ich hinter ihm her, doch sein Rollstuhl verschwand für immer hinter einem einsamen Horizont.
Yours,
Vajra Nalanda