Vielliebelei
Wir merken: es nicht so ganz klar, was "Liebe" eigentlich meint. Hingewiesen wurde bereits auf den Umstand, dass Liebe offensichtlich nicht gleich Liebe ist. Liebe ist immer Liebe
zu etwas oder jemandem – ich liebe mein Kind, meine Modelleisenbahn, mein Haus, mein Boot, meine Frau. Insofern sind wir alle polyamorös.
Aber was meint diese "Liebe" zu all den Personen und Dingen? Genau besehen geht es darum, dass unsere vielfältigen
Bedürfnisse befriedigt werden. Je besser unsere Bedürfnisse befriedigt werden, umso wohler fühlen wir uns. Und weil wir uns möglichst immer wohl fühlen wollen, haben wir Systeme und Mechanismen erfunden, die Objekte unserer Bedürfnisbefriedigung an uns zu binden, so dass sie uns ständig
zur Verfügung stehen.
Damit ist auch klar, warum wir
Angst haben, das Objekt unserer Liebe zu verlieren: unsere Bedürfnisse würden nicht mehr befriedigt werden (Lethes Frage, s.o.).
Ob Monogamie irgendwie "natürlich" ist, weiss ich nicht, weil der Massstab dessen, was "Natur" sein soll, meist auf einer willkürlichen Annahme beruht (Man behauptet auch in gewissen Kreisen, Homosexualität sei "unnatürlich"). Aber dass monogame Paarbeziehungen die Regel sind, leuchtet mir sehr ein: In einem System gegenseitiger Bedürfnisbefriedigung ist es schlichtweg höchst
praktisch, wenn das System nur auf zwei Menschen bezogen ist (Alre hat einen ähnlichen Gedanken gehabt). Dass diese zwei Menschen meist Frau und Mann sind, liegt wiederum –diesmal tatsächlich – in der Natur begründet, die uns Menschen als zweigeschlechtliche Wesen geschaffen hat, wovon nur die eine Hälfte den Nachwuchs zur Welt bringen kann, die andere Hälfte aber zu dessen Zeugung benötigt wird..
Eine gelungene Paarbeziehung ist deshalb gelungen, weil beide Beteiligten sich gegenseitig genügend Bedürfnisse befriedigen, dass sie es für lohnenswert ansehen, eine
Lebensgemeinschaft zu bilden (etwa in einer gemeinsamen Wohnung zu leben) und so unter praktischen und organisatorischen Gesichtspunkten ihre Bedürfnisse maximal einfach befriedigen können.
Wenn ich denke, wie schwierig es ist, genau diesen Partner zu finden, von dem ich (zumindest in der Verliebtheitsphase) glaube, dies leisten zu können, scheint die ganze Angelegenheit noch komplexer zu werden, wenn dieses Austarieren der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigungen unter drei oder gar mehr Personen erfolgen soll. Denn wir reden ja vom (idealisierten) Zustand eines hermetischen, sich im Gleichgewicht befindenden Systems. Wir haben genügend Beispiele davon, dass Zweierbeziehungen zerbrechen, wenn einer sich unbefriedigt fühlt.
Wozu also eine Dreierkonstellation? Doch nur, weil
ein Partner allein meine Bedürfnisse nicht abdeckt. Also nehme ich einen zweiten für
diese Bedürfnisse hinzu. Nun haben die beiden aber auch ihre Bedürfnisse, die sowohl ich als auch je einer der beiden anderen abdecken müssen. Damit wird die Sache noch komplexer und fragiler, als sie bei Paarbeziehungen eh' schon ist.
Ginge es nur um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse, ist die Einschränkung der Monogamie allerdings eher unpraktisch. Aber wir Menschen haben ja eine Menge mehr Bedürfnisse, die wir von einem Partner befriedigt haben wollen – etwa solche, die in seelischen Bereichen liegen. Indem ich mich auf
eine Person, ein Gegenüber statt mehreren, konzentriere, ihn/sie immer besser kennen lerne, sich immer mehr Vertrauen aufbaut, umso mehr ist dies seltsame In-Eins-Schwingen der Seelen möglich, das eines unserer tiefsten Bedürfnisse ist.
Ich sage nicht, dass ein solcher Prozess sich nicht auch mit mehreren Partnern einstellen kann, aber da mein Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, muss ich notwendig – allein im Hinblick auf die gemeinsam verbrachte Zeit – Einschränkungen gegenüber dem je Anderen machen.
Aber ich glaube, der Grund für die Bevorzugung der Monogamie liegt noch tiefer: Wir Menschen konstituieren unser Selbstbewusstsein um ein "Ich" herum. Dieses "Ich" kann nur in Abhebung von einem "Du" entstehen. "Mehr als zwei sind eine Gruppe, jeder Dritte hat ein andres Ziel" textete der alte Barde Reinhard Mey in den Siebzigern. Sobald ein Dritter zu zweien hinzukommt, geht die Eindeutigkeit des Gegenüber-Seins in die Binsen. Dafür eröffnen sich andererseits ganz neue "Spiel"möglichkeiten des Hin und Hers der Bezüge zwischen den Menschen. Dennoch wird das reine Aufeinander-Bezogensein eines Ichs auf ein Du durch ein weiteres Du aufgehoben.
In monogamen Paarbeziehungen erleben wir das Andere des "Du" in reiner Weise. Und d.h. wir erleben unser "Ich" in Reinform. In dieser Reinheit geht unsere Seele auf, deshalb gibt es die ihr innewohnende Sehnsucht nach dem reinen Du, nach der monogamen Paarbeziehung.
Daneben gibt es noch weitere Aspekte: jedes Bedürfnis ist durch Erziehung geformt und durch die Gesellschaft geprägt. Die wiederum hat ihre eigenen Interessen: etwa Rechtssicherheit im Erbschaftsrecht. In patriarchalischen Gesellschaften (Männer vererben Männern) war es in Zeiten vor DNA-Tests von zentraler Wichtigkeit, Kinder den verspritzten Spermien der Männer zuordnen zu können. Allein hieraus ergab sich die Logik, jedem Mann Frauen eindeutig zuordnen zu können. Und der Zorn des Mannes, der sich in ihm erhob, wenn ein anderer seine Frau beschlief, gründete nicht nur auf Eifersucht, sondern auch auf die Angst, diese könnte ihm einen Erben gebären, der gar nicht sein Blutsverwandter ist.
Solche seit Jahrhunderten eingeübte Reflexe können – neben der Angst, die Bedürfnisbefriedigung zu verlieren – Quellen heutiger Verhaltensweisen, etwa Eifersuchtsreflexe, sein.
Mit "Liebe" hat das eigentlich alles nichts zu tun. Und so sagte mir 'mal ein schlauer Mensch: "Solange du noch
jemanden liebst, liebst du eigentlich überhaupt nicht."
Deshalb bin ich skeptisch, wenn Verfechter polyamoröser Lebensweisen ständig darauf hinweisen, dass es doch nicht rechtens sein könne, wenn sie ihre tief in ihnen wohnende reine Liebe nur einem Menschen schenken sollten, und nicht mehreren. Und selbst wenn ich ihnen ihre reine Liebe abnähme, frage ich sofort weiter: Warum liebst du dann nur zwei oder drei andere Menschen? Und nicht gleich die ganze Menschheit, wie etwa Mutter Theresa?
"Wir wollen nur unser Leben bereichern" (s. Alec) wäre wenigstens eine ehrliche Aussage. Wer sich bereichern muss, fühlt sich arm oder kriegt den Hals nicht voll genug.
stephensson
art_of_pain