Wertungen und Dimensionen
Zunächst zu lethes Einwurf: nein, ich wollte keinesfalls werten. Ich finde das Thema Polyamorie sehr spannend, weil ich nicht verstehe, wie polyamoröse Menschen denken und fühlen, und immer dann, wenn ich etwas nicht verstehe, reizt es mich, mehr darüber zu erfahren.
Die allbekannte Tatsache, dass frischgebackene Mütter keine Lust auf Sex haben und dennoch klammern, steht mit meinen Gedanken in keinerlei Widerspruch. Ich wies darauf hin, dass neben Sex die seelischen Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen, mindestens so wichtig, wenn nicht sogar die wichtigeren sind.
Die Schlussbemerkung in meinem letzten Posting war missverständlich. Mir ging es darum, in einem polemischen Ton das Wort „Bereicherung“ aufzunehmen. Meine Polemik bezog sich – unausgesprochen – auf ein
generelles Problem der heutigen Zeit: nicht genug kriegen zu können (unser Kapitalismus lebt davon). Dieses „Nicht genug“ spielt genauso in monogame Beziehungen hinein wie es etwa auch in Freizeitstress-Situationen oder im Konsumrausch auftritt. Ich denke mir, dass, wenn das Motiv, nicht nur eine Frau, sondern zwei oder drei, nicht nur einen Mann, sondern zwei oder drei zu lieben, aus einer solchen Konsumhaltung kommt, dann wird die Enttäuschung folgen, so, wie man sich auch nicht erholter fühlt, wenn man dreimal pro Jahr Urlaubsstress auf sich nimmt statt nur einmal.
Mir ging es zunächst darum, dass mir eine sinnvolle Diskussion über Viel-Liebe erst dann möglich scheint, wenn wir uns zuerst darüber verständigt haben, was wir eigentlich unter Liebe verstehen. Hierzu habe ich das sehr unromantische Modell der Bedürfnisbefriedigung angeboten.
Wenn mir also polyamorös lebende Menschen mir klar machen könnten, wie und in Bezug auf welche Partner welche Bedürfnisse befriedigt werden, könnte ich vielleicht mehr von dieser Lebensweise verstehen.
Ich nehme sagittas Frage dazu: Nichts ist schlimm daran, wenn
ein Partner allein nicht alle Bedürfnisse befriedigen kann, im Gegenteil: so einen Partner gibt es gar nicht. Angenommen, ich spielte für mein Leben gern Tennis, aber meine Geliebte nicht: selbstverständlich wird nichts von unserer Liebe in Frage gestellt, wenn ich mit anderen Partnern Tennis spielen gehe.
Ähnlich denke ich es mir auch, wenn eine Frau ihren Mann liebt, der aber kein BDSMler ist, und sie ihre BDSM-Gelüste mit einem anderen Mann, einem Dom, auslebt.
Nur: weder der Tennispartner noch der Dom machen die Liebe polyamorös, oder irre ich mich? Wenn ja, träfe das zu, was ich schon formuliert habe: dann wären wir alle polyamorös.
Bleibe ich in meinem Schema der Bedürfnisbefriedigung, stellt sich die Frage, ab wann ein Mensch eine solche Vielzahl von Bedürfnissen abdeckt, dass ich plötzlich sage: ich liebe ihn. Mein Automechaniker deckt mir auch ein Bedürfnis ab (mein Auto hat wieder TÜV), aber deshalb liebe ich ihn ja nicht, oder?
Und wie oft hören wir von ausserehelichen BDSM-Beziehungen, und es wird uns versichert, dass da Liebe nicht im Spiel wäre. Zuneigung, Vertrauen: ja, aber Liebe – nein.
Nennen wir es nicht dann Liebe, wenn wir einerseits eine tiefe seelische Verbundenheit mit einem anderen Menschen fühlen, andererseits aber auch
mit diesem Sex haben? Ich habe langjährige Freundinnen, mit denen mich inniger Seelengleichklang verbindet, nur: wir waren nicht zusammen im Bett. Deshalb sage ich nicht: „Ich liebe dich“. Und doch ist da viel Liebe. Und manchmal sage ich es doch. Aber ist dieser Wortgebrauch dann nicht eine blosse billige Konvention? Was heisst „inniger Seelengleichklang“? Ist es nicht doch wieder nur die Befriedigung meines Bedürfnisses, mich
verstanden fühlen zu dürfen?
Die Liebe zu den eigenen Kindern wurde ebenfalls schon angesprochen. Diese Art der Liebe lässt mich an meinem Gedanken der Bedürfnisbefriedigung durchaus zweifeln. Ich weiss zwar, dass viele Mütter (und auch Väter) ihre Kinder dazu missbrauchen, ihre eigenen Bedürfnisse nach Geliebtwerden und Lebenssinngebung zu befriedigen, aber ich bin mir nicht sicher, ob dies der eigentliche
Grund der Liebe ist. Biologische Argumente zählen hier nicht, weil ein Biologe mir zwar erklären kann, wie Zellstoffwechsel funktioniert, aber nicht, was Liebe ist.
Also was bitte ist Polyamorie?
sagitta sprach sehr schön von der „Dimensionserweiterung“, die jemand erfährt, der in einer polyamorösen Konstellation lebt. Mein Hinweis auf den Übergang vom „Ich – Du“ zum „Ich – die anderen“ zielte auf dasselbe. Ich fragte nur umgekehrt, ob nicht in der Begegnung „Ich – Du“ eine primäre Qualität liegt, die sich beim „Ich – Viele“ auflöst. Mir kam die Frage, weil eben die Erfahrung lehrt, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen die „Ich – Du“-Konstellation sucht.
Aber worin besteht die Qualität dieser Dimensionserweiterung?
Ich lese noch einmal den Wikipedia-Artikel und merke, wie unklar dieser ist. So wird einer der Vorzüge von Polyamorie folgendermassen charakterisiert: „Es braucht nicht geleugnet zu werden, falls man für mehr als einen Menschen Gefühle empfindet.“
Hallo? Gibt es Menschen, die nur für
einen anderen Menschen Gefühle empfinden?
Lese ich weiter, kommt es mir so vor, als ob hier Polyamorie mit Selbsterfahrungsgruppen verwechselt würden. Auch dort sind es die Themen: ehrlich zu sich selbst und zum anderen sein, klar aussprechen können, was ich fühle, Ängste (insbesondere Verlustängste) auszusprechen oder den ausgesprochenen Ängsten anderer liebevoll zu begegnen, die Abhängigkeiten von meinen Bedürfnissen überwinden lernen.
wiredbrain, die Schlaue, schrieb, passend zu diesem Gedanken: „Es [= Polyamorie] hat Nachteile, die viele Menschen in Verzweiflung treiben könnten. Es scheint mir nur zu taugen für Menschen mit hohem Autonomiebedürfnis, die gleichzeitig die Fähigkeit zu tiefen Empfindungen haben. Ein gewisses Bedürfnis nach Rationalität scheint mir vonnöten, um den Bauch derart machen lassen zu können.
Und noch einmal:
genau diese Ansprüche haben meine Geliebte und ich auch in unserer monogamen Beziehung.
Also: worin besteht die Qualität der Dimensionserweiterung?
Ist es nicht genau umgekehrt? Um erfolgreich in einer polyamorösen Konstellation leben zu können, muss ich innerlich mächtig reif sein. Ich muss meine Verlustängste überwunden haben, ich muss meine Ängste überwunden haben, dass meine Bedürfnisse nicht befriedigt werden (damit ich nicht „klammere“), ich muss gelernt haben, souverän zu sein. Kurz: ich muss reif und weise sein.
Bingo. Aber
wenn ich das bin, dann kann ich auch alleine leben, oder auch mit
nur einem Partner, oder nicht?
stephensson
art_of_pain
P.S. Inzwischen hat Mike von seinen Kindern berichtet. Mike ist bisher der Einzige, der sagt, er sei polyamorös und dessen Äusserungen für mich nachvollziehbar waren. Aber ist dies Polyamorie? Wenn zwei Ehepaare sich über Kreuz verlieben? „Wir sehen es nicht als Institution“, schrieb Mike. Gehört Sex dazu? Laut Wikipedia nicht unbedingt. Na, dann bin ich auch polyamorös.