Hörigkeit, Abhängigkeit
Hörigkeit, Liebessucht, Beziehungssucht oder einfach Abhängigkeit ist ein Thema mit großer Bandbreite, denn Abhängigkeiten entstehen in jeder Beziehung und gehören bis zu einem gewissen Grad sogar zu unserem Liebesideal. So sind z.B. Aussagen wie "Ich tue alles für Dich", "Ich bin nichts ohne Dich" höchste Liebeserklärungen und beinhalten doch die Möglichkeit der Selbstaufgabe. Gesellschaftlich gesehen ist Abhängigkeit ein durchaus erwünschtes Moment, stabilisiert sie doch die Verhältnisse und trägt nicht selten zur Stabilität von Partnerschaften bei. Daher werden manche Formen der Hörigkeit von Betroffenen auch als "normale" romantische Liebe interpretiert. Hörigkeit entsteht in einem längeren Prozeß, in dem der eigene Wille allmählich und in zunehmendem Maß verloren wird. Dies ist für den Betroffenen selbst meist erst spät zu erkennen und oft nur durch Eingriffe von außen oder therapeutische Hilfestellung zu bewältigen. Auch Sekten u.a. Gruppierungen können Unerfahrenheit und das Bedürfnis nach Geborgenheit ausnutzen, um Hörigkeit zu schaffen.
Unter Hörigkeit versteht man ganz allgemein die gefühlsmäßige Bindung an andere Menschen in einem Ausmaß, in dem die persönliche Freiheit und menschliche Würde aufgegeben werden. Der Wille der herrschenden Person(en) kann insofern über die sich unterwerfende Person verfügen, als die Grenzen von Recht und Moral mißachtet werden. Man kann bei Hörigkeit nicht generell von Tätern und Opfern sprechen, denn es gibt Menschen, die sich an ihren Partner oder eine Gruppe klammern und sich völlig auf diese fixieren. Sie haben in der Regel kaum soziale Kontakte und ihr Selbstbewußtsein speist sich ausschließlich aus der Fixierung auf den meist idealisierten Partner, was diesen auch sehr belasten kann. Diese Form der Hörigkeit ist in der Regel aber nicht sexuell ausgeprägt, sondern allgemein auf das Zusammenleben mit dem Partner oder Gruppe bezogen.
Typisch für ein Hörigkeitsverhältnis ist, daß es nicht auf Gegenseitigkeit beruht, vielmehr ordnet sich die hörige Person dem Partner fast sklavisch unter, was dieser nicht selten ausnutzt. Meist werden diese Beziehungen nicht mit der Absicht zur Ausnutzung eingegangen, sondern entwickeln sich meist schleichend auf Grund der Persönlichkeitskonstellation der jeweiligen Partner. Der Hörige idealisiert die verehrte Person und die Beziehung in einer Weise, die Außenstehenden häufig unverständlich bleibt, zumal diese die Einseitigkeit erleben. Ein weiteres charakteristischer Merkmal von Hörigkeitsbeziehungen ist auch die Teilnahmslosigkeit der verehrten Person, was zwangsläufig zu Abweisungen und Demütigungen führt, die der hörig Liebende als unabwendbar und scheinbar unbelehrbar in Kauf nimmt. Zur Situation des hörigen Menschen gehört auch, daß er sich nicht mehr aus eigener Kraft lösen kann und hilflos in der psychische Abhängigkeit von einem anderen Menschen oder auch einer Gruppe bleibt.
Hörigkeit kann sich auch in der Aufgabe der sexuellen Selbstbestimmung äußern und wird in dieser Form leicht mit Masochismus (s.u.) verwechselt. Sexuelle Hörigkeit, ein Begriff, den Richard Freiherr von Krafft-Ebing im Jahre 1892 zur Bezeichnung der Tatsache gewählt hat, daß eine Person einen ungewöhnlich hohen Grad von Abhängigkeit und Unselbständigkeit gegenüber einer anderen Person haben kann, mit der sie im Sexualverkehr steht. Der oder die sexuell Hörige ordnet sich dem Partner dabei bedingungslos unter. "Klassische" Beispiele für sexuelle Hörigkeit finden sich bei älteren Männern, die eine wesentlich jüngere Frau lieben, der sie häufig in sozialem Status und finanziellen Möglichkeiten überlegen sind. Dennoch unterwerfen sie sich in ihrer Leidenschaft der Partnerin total und nicht selten lassen sie sich dabei ausnutzen.
Auch hinsichtlich der geschlechtlichen Beziehungen ist, wenn die Verbindungen einige Dauer haben sollen, ein gewisses Mass von Abhängigkeit eines Theiles vorn anderen, oder beider voneinander durchaus nothwendig. Gesetz und Sitte haben auch für diese Beziehung typische Formen geschaffen, welche zwar mit der Zeit wechseln, aber jeweils massgebend sind für die Frage, ob in einem concreten Verhältniss individuelle psychische Eigenschaften eine Abweichung vom normalen Grade der Abhängigkeit bewirkt haben. (...) Willensschwache Menschen, die auch in anderen Verhältnissen leicht in nicht mehr legitime Abhängigkeit gerathen, werden selbstverständlich im geschlechtlichen Verhältnisse um so leichter das Opfer der Uebergriffe des anderen Theiles. Furcht, den Genossen zu verlieren, der Wunsch, ihn immer zufrieden, liebenswürdig und zum geschlechtlichen Verkehr geneigt zu erhalten, sind hier die Motive des unterworfenen Theiles. Ein ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit einerseits, der - namentlich beim Weibe - durchaus nicht immer nur einen ungewöhnlichen Grad von Sinnlichkeit bedeutet, und Charakterschwäche andererseits sind die einfachen Elemente des ungewöhnlichen Vorganges. Das Motiv des anderen Theiles ist Egoismus, der freien Spielraum findet. Auch hier ist das, was Recht und Sitte vorschreiben, wechselnd, aber jeweils das Kriterium und Mass der ungewöhnlichen Erscheinungen. Nur das, was über die als normal geltenden Pflichten hinaus aus einem besonderen inneren Antrieb vom abhängigen Theile geleistet und geduldet wird, ist die Erscheinung, die uns hier beschäftigt.
Solche Erscheinungen also, die im Leisten und Dulden über das Mass des jeweils als normal Betrachteten vermöge psychischer Besonderheit des beherrschten Theiles hinausgehen, bilden das grosse Erscheinungsgebiet der geschlechtlichen Abhängigkeit. Nennen wir diese Erscheinung kurz "geschlechtliche Hörigkeit", denn sie tragen ganz den Charakter der Unfreiheit. Der Wille des herrschenden Theiles gebietet über den des unterworfenen Theiles wie der des Herrn über den Hörigen. (...) Die Erscheinungen der Geschlechtshörigkeit sind in ihren Formen mannigfaltig und die Zahl der Fälle ist eine ungemein grosse. In geschlechtliche Hörigkeit gerathene Männer finden wir im Leben bei jedem Schritt. Hierher gehören unter den Ehemännern die sogenannten Pantoffelhelden, namentlich die alternden Männer, die junge Frauen heiraten und das Missverhältniss der Jahre und körperlichen Eigenschaften durch unbedingte Nachgiebigkeit gegen alle Launen der Gattin auszugleichen trachten; hierher, auch ausserhalb der Ehe, gehören die überreifen Männer, die ihre letzten Chancen in der Liebe durch unangemessene Opfer zu verbessern trachten; hierher aber auch die Männer jeden Alters, die von heisser Leidenschaft für ein Weib ergriffen, bei ihm auf Kälte und Berechnung stossen und auf harte Bedingungen capituliren müssen; verliebte Naturen, die von notorischen Dirnen sich zur Eheschliessung bewegen lassen; Männer, die, um Abenteurerinnen nachzulaufen, alles im Stich lassen und ihre Zukunft aufs Spiel setzen, Gatten und Väter, die Weib und Kind verlassen und das Einkommen der Familie einer Hetäre zu Füssen legen; Männer, die sich Testamente und Schenkungen abtrotzen und abschmeicheln lassen, und endlich jene Männer, die sich von der Habsucht oder Rachsucht des Weibes, in dessen Gewalt sie durch Liebesleidenschaft gerathen sind, zu verbrecherischen Thaten hinreissen lassen.
So zahlreich aber auch die Beispiele männlicher Hörigkeit sind, so muss doch jeder halbwegs unbefangene Beobachter des Lebens zugeben, dass sie an Zahl und Gewicht der Fälle gegen die weiblicher Hörigkeit weit zurückbleiben. Dies ist leicht erklärlich. Für den Mann ist die Liebe fast stets nur Episode, er hat daneben viele und wichtige Interessen; für das Weib hingegen ist sie der Hauptinhalt des Lebens, bis zur Geburt von Kindern fast immer das erste, nach dieser noch oft das erste, immer mindestens das zweite Interesse.
Geschlechtliche Hörigkeit ist keine Perversion, sie ist nichts krankhaftes, die Elemente, aus denen sie entsteht, Liebe und Willensschwäche, sind nicht pervers, nur ihr gegenseitiges Stärkeverhältniss erzeugt das abnorme Resultat, das den eigenen Interessen, oft Sitten und Gesetzen, so sehr widerspricht. Das Motiv, aus welchem der unterworfene Theil hier handelt und die Tyrannei erduldet, ist der normale Trieb zu einer Person des anderen Geschlechtes, dessen Befriedigung der Preis seiner Hörigkeit ist. Die Acte des unterworfenen Theiles, in denen die geschlechtliche Hörigkeit zum Ausdruck kommt, geschehen auf Befehl des herrschenden Theiles, um seiner Habsucht etc. zu dienen. Sie haben für den unterworfenen Theil gar keinen selbstständigen Zweck; sie sind für ihn nur Mittel, den eigentlichen Endzweck, den Besitz des herrschenden Theiles zu erlangen oder zu bewahren. Endlich ist Hörigkeit eine Folge der Liebe zu einem bestimmten Individuum; sie tritt erst ein, wenn diese Liebe erwacht ist.
Es kann aber mit Hörigkeit auch eine rein emotionale Abhängigkeit gemeint sein, bei der die Sexualität nicht im Vordergrund steht. Als Motiv für den unterwerfenden Teil gilt der eigene Egoismus und die Möglichkeit, den eigenen Spielraum und die eigenen Regeln zu bestimmen. Als Motiv für den untergeordneten Teil wird der Wunsch gesehen, den anderen als liebenswürdig und zur Sexualität bereit zu erleben.
In solchen Abhängigkeitsbeziehungen ist die Autonomie von Entscheidungen bei beiden Partnern stark eingeschränkt, da auch der anscheinend bestimmende Partner von der Hörigkeit des anderen abhängig ist. Hörigkeit kann gelegentlich bis zum Verlust jedes selbständigen Willens und bis zur Erduldung der schwersten Opfer gehen.
Verbindungen, in denen Frauen ihrem Partner sexuell hörig sind, sind oft von körperlicher Gewalt geprägt. Auch daran läßt sich erkennen, daß Hörigkeit im Ursprung mit der Vernachlässigung der eigenen Person zusammenhängt. Voraussetzung für Hörigkeitsverhalten ist stets, daß man Liebe und Anerkennung nicht aus sich selber heraus beziehen kann, sondern auf eine andere Person fixiert ist, die diese schenkt bzw. von der sich der Hörige allein vorstellen kann, sie zu bekommen.
Begriffsbestimmung
Der Begriff Hörigkeit stammt ursprünglich aus der Rechtssprache und bezeichnet ein Verhältnis besonderer Abhängigkeit. Bereits in der ersten Entwicklungsphase der Leibeigenschaft (9. Jahrhundert bis Ende des 12. Jahrhunderts) flossen Leib- und Grundherrschaft zusammen, wobei die Hörigen, die an den Boden gebunden waren (Grundholden) von den Leibeigenen, die sich als Freie in den Schutz des Grundherren begeben hatten, unterschieden werden müssen. Die an die Scholle gebundenen Hörigen (Halbfreien) galten als Zubehör des Bauernguts. Zur Abhängigkeit gehörten auch persönliche Dienst- und Kriegsleistungen der gesamten Familie des Hörigen (Hand- und Spanndienste). Die Hörigkeit wurde endgültig im 19. Jahrhundert mit der Bauernbefreiung beseitigt. Sie wurde in Rußland z. B. erst 1861 aufgehoben.
Ein solches Maß von sexueller Hörigkeit ist in der Tat unentbehrlich zur Aufrechterhaltung der kulturellen Ehe und zur Hintanhaltung der sie bedrohenden polygamen Tendenzen. (...) Die Hörigkeit ist demgemäß ungleich häufiger und intensiver beim Weibe als beim Manne, bei letzterem aber in unseren Zeiten immerhin häufiger als in der Antike. Wo wir die sexuelle Hörigkeit bei Männern studieren konnten, erwies sie sich als Erfolg der Überwindung einer psychischen Impotenz durch ein bestimmtes Weib, an welches der betreffende Mann von da an gebunden blieb. Viele auffällige Eheschließungen und manches tragische Schicksal - selbst von weitreichendem Belange scheinen in diesem Hergange ihre Aufklärung zu finden.
Sigmund Freud: Das Tabu der Virginität (1918).
Siehe dazu auch
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen
In der öffentlichen Wahrnehmung, scheint Abhängigkeit in der Beziehung ein Frauenthema zu sein. Auch die einschlägige Literatur ist fast nur aus Frauensicht geschrieben! Aber es ist vor allem ein Tabu-Thema. In einer Zeit, in der auf der einen Seite die Autonomie des Individuums einen hohen Stellenwert hat, auf der anderen Seite die Zweierbeziehung, die Familie zum letzten Ort von Geborgenheit und Nähe stilisiert wird, ist es schwer, sich öffentlich zum Scheitern in beiderlei Hinsicht zu bekennen. Und dies gilt besonders für Männer. Ihnen fällt es noch schwerer, sich zu ihrer Abhängigkeit zu bekennen und darüber zu sprechen. Es widerspricht dem Männerbild in unserer Gesellschaft. Nach Ansicht der Fachleute sind Männer genauso häufig und schmerzhaft abhängig in der Beziehung wie Frauen. Ein Mann kann vielleicht sagen, daß er von seiner Partnerin sexuell abhängig ist, aber nicht zugeben, daß er die Nähe und Geborgenheit seiner Partnerin braucht, um leben zu können. Das hat vermutlich in erster Linie mit der häuslichen Versorgung und emotionalen Zuwendung einer Frau zu tun, wie Männer das schon von ihrer Mutter her gewohnt waren. Aus der Bewusstheit der eigenen Hilflosigkeit beim Alleinsein reagieren Männer häufig aggressiv, sie wenden sich dann gegen die Frau, die sie eigentlich brauchen, und werden verletzend bis gewalttätig. Frauen reagieren häufig mit Autoaggression oder leiden zunächst still vor sich hin, bis es irgendwann zu Selbstverletzungen und Selbstzerstörung kommt.
Männer nehmen ihre Abhängigkeit oft erst wahr, wenn die Partnerin sich bereits verabschiedet hat -und Trennungen gehen immer häufiger von den Frauen aus. Dann kämpfen die Männer um die Beziehung und suchen häufig jahrelang Beratungsstellen auf, obwohl die Frau die Trennung bereits vollzogen hat. Frauen sind - auch heute noch - ökonomisch abhängig, besonders dann, wenn Kinder vorhanden sind. Manche Männer sind von Kindesbeinen an abhängig von der emotionalen und häuslichen Versorgung durch eine Frau. Frauen reagieren häufiger in ihrer Abhängigkeit eher mit stillem Leiden und Selbstschädigung bis hin zur Selbstzerstörung. Männer dagegen mit Aggressionen: Obwohl sonst friedfertig, schlagen sie gerade die Person, die sie vorgeben am meisten auf der ganzen Welt zu lieben. So verstecken sie ihre Hilflosigkeit und Abhängigkeit.
In der Psychotherapie wird Hörigkeit ähnlich wie andere Suchtverhaltensmuster behandelt. Sexuell Hörigen ist es unangenehm, sich zu ihrem Problem zu äußern und suchen daher erst dann, wenn der Leidensdruck sehr groß ist, Hilfe bei anderen Menschen oder Therapeuten. Sexuelle Hörigkeit ist in der Regel schwer therapierbar, da die Ursachen meistens in Erlebnissen der frühen Kindheit liegen (s.u.), daher können Betroffene ohne professionelle Hilfe, etwa eine Gesprächspsychotherapie, kaum aus dieser suchtähnlichen Beziehung entkommen. In seltenen Fällen, wenn beide Partner ihre Beziehung ändern wollen, bietet sich eine Paartherapie an, allerdings stehen hörige Personen dabei vor dem fast unmöglichen Dilemma, sich aus der Abhängigkeit befreien zu wollen, ohne sich vom Partner endgültig zu lösen.
Das klassische Bild des abhängigen Mannes wird in dem Roman "Lolita" von Wladimir Wladimirowitsch Nabokow (1899-1977, amerikanischer Schriftsteller mit russischer Herkunft) gezeichnet, wobei Lolita der Name eines Mädchens ist, das seinem Alter nach noch fast ein Kind, körperlich aber schon entwickelt ist und zugleich unschuldig und raffiniert, naiv und verführerisch wirkt. Der Romantitel "Lolita" wurde dabei in vielen Sprachen zum Synonym für eine Kindfrau. Der damals Skandale und Aufsehen erregende Roman durchleuchtete in satirischer Weise sexuelle Normen und Verhaltensweisen in den USA.
Jürgen Christ (2006) geht in der "Kleinen Liebesfibel" den verschiedensten Fragen im Zusammenhang mit Beziehungen nach, etwa auch der grundlegenden, ob Liebe und Beziehungsfähigkeit erlernbar sind. Nach seiner Meinung strömen täglich Informationen über Liebe und Beziehungen aus den Medien auf uns ein - auch aus der Psychologie. Viele Menschen sind damit überfordert. Sie suchen nach Austausch in Gefühls- und Sinnfragen, nach einem tieferen Lebenssinn, oft nach sich selbst, vor allem aber nach Zweisamkeit, nach offener und ehrlicher Kommunikation sowie körperlicher Nähe zu einem vertrauten Menschen. Dieses Handbuch, das nun in der zweiten Version als gratis downloadbares E-Book angeboten wird, bietet einfach formulierte und verständlich dargelegte Empfehlungen für das Single- oder Partnerschaftsleben, wobei Fachbeiträge und Expertenaussagen ein wenig Licht ins Dunkel der komplexen Beziehungsvorgänge bringen.