Zieh dich aus, leg dich hin …
… wir müssen reden!
Nein vielen Dank, ich stehe lieber
Es ist nicht so, dass es zwecklos wäre, mir einen Sitzplatz anzubieten, weit gefehlt, es geht nur um ganz bestimmte Situationen, in denen ich das Stehen, dem Sitzen oder Liegen oder Knien gegenüber, vorziehe. Und obwohl dieser Teil des Lebens zeitlich gesehen nur einen Bruchteil ausmacht, ist er für einen weit größeren Teil des Wohlbefindens der meisten Menschen verantwortlich.
Da aber die Möglichkeiten für einen erfüllenden Koitus (aus welchen Gründen auch immer) spärlich gesät sind, sollte man die einem verbleibenden Gelegenheiten wenigstens optimal nutzen und nicht hinterher der verpassten Chancen nachtrauern.
Ich stehe beispielsweise der Kirche, ihren Missionaren und ihrem missionarischen Eifer schlechthin, sehr skeptisch gegenüber. Darum verwundert es nicht, dass ich auch der Missionarsstellung rein gar nichts abgewinnen kann. Gut, unter dem Motto: Mittelprächtiger Sex ist immer noch besser als überhaupt kein Sex, kann ich sie noch tolerieren. Auch dass in dieser Position der Körperkontakt mit dem Partner der größtmögliche aller Stellungen ist und dass man sich so toll küssen und ansehen kann, tröstet mich nur am Rande über diese in meinen Augen gar zu vermenschlichte Art des Sexes hinweg.
Nun wundert es niemanden, dass sich meine Zehennägel aufrollen, wenn ich immer wieder lesen muss: „Die Missionarsstellung ist der Standard …“ Seien es nun Dr. Sommer in der Bravo (meine ersten Mädchen pubertieren gerade) oder selbsternannte Sexualexperten (Sexperten als witziges(!) Wortspiel) in andern Publikationen, immer wieder ist zu lesen: dass sei die gewöhnlichste, normalste(!) und am weitesten verbreitete Art des (heterosexuellen) Geschlechtsverkehrs. Wer urteilt denn da bitteschön, oder bitte wer schreibt da immer wieder von anderen ab? Experten ja wohl kaum.
Besonders der vermeintliche Umstand, man erfülle eine Norm (impliziert durch die Vokabel „normal“) macht mich nicht nur Staunen sondern manchmal regelrecht sauer. Zweitausend Jahre Christianisierung und noch immer nichts dazugelernt? Was dieses Thema angeht, könnte man meinen, die einschlägigen Publikationen und deren Verfasser (Verbrecher träfe es besser) seien im Mittelalter stehen geblieben. Wenn wir schon unbedingt eine Norm brauchen, dann sicher nicht eine, die uns eifernde Missionare hinterließen, denn das Schlimme an ihrer Hinterlassenschaft, ist der Umkehrschluss: die angebliche Verwerflichkeit unseres Tuns, hielten wir uns nicht an sie.
Natürlich ist auch mir klar, dass sich solche moralischen Restriktionen im Laufe des sich entwickelnden Sexuallebens mehr oder weniger legen. Aber um wie vieles schöner wäre die Sexualität und um wie vieles leichter fiele machen Menschen es, ihre Wünsche zu leben, gäbe es diese Normierungen und Klassifizierungen, was „normal“ und was gesellschaftlich akzeptiert oder verpönt sei (illegale Praktiken ausgenommen), nicht.
Jeder, der schon einmal einen gewaltigen Adrenalinstoß hatte, weiß was ich meine. In bestimmten Situationen ist unsere Zivilisation nur eine dünne Tünche über einem wilden Tier. Nur, es ist in den meisten Fällen falsch oder gefährlich, sich mit Urinstinkten zu wehren oder auf gefährliche Situationen zu reagieren. Das soll aber bitte nicht dazu führen, dass wir diese generell verteufeln. Das Einverständnis des Partners vorausgesetzt (ich weiß, das war in der Steinzeit nicht immer so), sollte es uns heute möglich sein, zu unseren Wünschen zu stehen, auch zu denjenigen, die allem Anschein nach einen Rückfall in Urzeiten bedeuten.
Das sei „unnatürlich“? Und warum mussten dann Abertausende von Missionaren den Naturvölkern erst einmal beibringen, wie sie sich fortan zu lieben hätten und wie nicht? Glücklicherweise war die Natur meistens stärker und die Naturvölker scherten sich nicht großartig darum. Nur der westlichen Zivilisation, zu lange dem Einfluss der Kirche ausgesetzt, ist es bis auf den heutigen Tag vergönnt, die Missionarsstellung als gesellschaftliche Norm leben zu dürfen.
Wenn ihr mich fragt: Das ist der wahre Untergang des Abendlandes.
© 2007 Tilmann