Die hemmungslose Gesellschaft – Nein Danke!
TE:
müssen wir uns immer noch hinter vorgehaltener Hand als Mitglied einer verpönten Subkultur zu erkennen geben?
Meine Antwort: Das hängt imho weniger von der Gesellschaft als von der persönlichen Einstellung und Wahrnehmung ab.
Im dörflichen Milieu aufgewachsen und später auch nie über den Kleinstadt-Bereich hinaus gekommen (war auch nicht gewollt), war bei mir auch in den Prä-Internet-Zeiten schon ein grosses Interesse an sexuellen Themen und Erfahrungen vorhanden. Ich bin damit nicht hausieren gegangen, hatte aber auch nicht den Eindruck, von „der Gesellschaft“ gezwungen zu sein, das zu verbergen.
Ich empfinde das als Teil meines Privat-Lebens, das ich also auch mit meinem privaten Kontakten teile. Im Freundeskreis war es so, dass dann einige vielleicht mal die Augen verdrehten, wenn ich wieder überall sexuelle Anspielungen und Zusammenhänge sah und anfing zu grinsen – andere hatten genau daran ihre Freude. Ich hatte viele Jahre eine monogame Einstellung und dazu grosse Freude und Interesse an „versautem Sex“ – kein Problem
. Genauso wenig ein Problem für mich, andere sexuelle Lebensformen zu akzeptieren. Allerdings sind mir dabei nur die Menschen „nahe“ und sympathisch, die auch diese Form ihres Lebens mit Werten und einer persönlichen Moral verbinden. Benutzen/ausnutzen, lügen, betrügen und hintergehen fand ich noch nie prickelnd.
Und vermutlich weil ich meine Offenheit in diesem Bereich nicht als problematisch empfand, haben sich mir dann oft relativ schnell Menschen mit ihren „Geheimnissen“ in diesem Bereich anvertraut.
Mit 16 hatte eine Freundin einen neuen Freund, der etwas älter war. Der vertraute mir dann im ersten ausführlicheren Gespräch etwas an, was kein anderer von ihm wusste: Er verdingte sich im Raum Baden-Baden manchmal als „Gigolo“ für ältere Damen. Später war ich bei einem Bekannten der Auslöser für ein schwules Outing, weil ich einfach ganz unbefangen nachfragte (im Zweier-Gespräch). Das zog im Nachhinein erstmal den Verlust des Arbeitsplatzes in einem Familienbetrieb nach sich, letztlich aber nur, um zu einer besseren und besser passenden Arbeitsstelle zu führen. Oder die Freundin, wo nur ich weiss, dass sie ihren Mann nicht beim Kneipenbesuch mit mir kennengelernt hat, sondern als Solodame bei einem Vierer im Swingerclub.
Aus meiner Sicht gab es schon immer eine „versaute Subkultur“, die entsprechenden Menschen finden sich da, aber warum sollte das über die ganze Gesellschaft übergreifen? Der Film „Shame“ bewegt sich im Grenzbereich der Sexsucht, aber was da über das „Finden“ gezeigt wird, wie leicht es dem Protagonisten fällt, „Gespielinnen“ zu finden, kenne ich auch genauso: Es gibt Menschen die wollen evtl. gerne „versaut“ unterwegs sein, schleppen aber dabei ihre eigene Verklemmtheit und viele Unsicherheiten mit sich rum. Diese erlebe ich dann auch meist extrem abhängig von „was die Gesellschaft dazu sagt“ und oft auch frustriert von der Schwierigkeit, entsprechende Mitspieler zu finden. Auf der anderen Seite habe ich oft erlebt, dass auch Männer völlig unkompliziert beliebig viele Sexpartnerinnen finden können, weil sie sie einfach anziehen dadurch, dass sie genau wissen, wer und was sie selbst sind. Diese leben dann meist eben im Reinen mit sich und mit der Gesellschaft.
Subkultur = Begriff mit dem eine bestimmte Untergruppe der sozialen Akteure einer Kultur beschrieben wird
Und genau da ist für mich ein „versautes Ausleben von Sexualität“ gut aufgehoben – in einer Untergruppe. Genauso wenig wie ich möchte, dass „religiöse Jünger“ aus ihrer Gruppe auf die Gesellschaft übergreifen, möchte ich das von den hier angesprochenen „sexuell überzeugten Jüngern“. Die Gesellschaft im Ganzen/ die Öffentlichkeit sollte nach meinem Ermessen in erster Linie einen Schutzraum für ihre Untergruppen darstellen. So finde ich es wichtig, dass diese Dinge einem nicht in der Öffentlichkeit „aufgezwungen“ werden. Es gibt eben nicht nur Menschen, die Sexualität als versaute Genussform erleben, sondern auch einige, für die das in dieser Form nichts ist. Bis hin zu den Fällen, wo durch erlebten sexuellen Missbrauch ein ganz besonderer Schutzbedarf gegeben ist.
Unabhängig davon, ob es meinen Neigungen entspricht, finde ich es wunderbar, dass es Swingerclubs, erotische Parties, Schwulenszene, BDSM-Bereiche, Privatkreise und was auch immer gibt und keiner der Teilnehmer Angst vor Illegalität oder Strafanzeige haben muss. Dagegen wünsche ich mir bei öffentlichen Übergriffen wie z.B. im Bereich „Parkplatzsex auf öffentlichen Parkplätzen“ einiges mehr an Kontrolle und Strafanzeigen, damit nicht wie hier im JC auch schon geschildert, eine benötigte Erholungspause zu einem „SpießRUTENlauf“ werden muss..
TE:
Oder überwiegt – trotz „Love & Peace“- und aller Folgebewegungen, immer noch eher eine gewisse Schamhaftigkeit?
Ich bin sehr froh um eine gewisse Schamhaftigkeit in der Öffentlichkeit und um Menschen, die sich auch im privaten Bereich Gedanken über persönliche Moral und Werte nicht nur machen, sondern diese dann auch leben.