Vorsicht vor/bei normativen Aussagen
Die Menschen sind verschieden von einander, und das können auch ihre Erkrankungen sein. So viele Hilfsmittel (z.B. ICD 10) es auch gibt, kann deshalb dennoch nach wie vor davon ausgegangen werden, dass sich die Erkrankung des einen von der eines anderen möglicherweise erheblich unterscheidet. Diagnostische Instrumente oder Erfahrungswerte können aus meiner Sicht eher als Anhaltspunkte gesehen werden.
Versteht man die Grenze zwischen "Norm" (ein messtechnischer Wert in der Mathematik) und "Pathologie" (Abweichung von der Norm) als fließend, wird auch deutlich, dass der Unterschied zwischen gesund und krank ebenso fließend ist. So kann ja ein als gesund bezeichneter Mensch durchaus pathologische Anteile haben und umgekehrt gilt das Gleiche. Versteht man die Grenzen als fließend, kann die Beschäftigung mit der Lehre von der Psyche und ihren Pathologien nicht als exakte (naturwissenschaftliche) unfehlbare Wissenschaft eingeordnet werden.
Dies macht aus meiner Sicht auch verständlich, warum bei einer psychischen Erkrankung in Kliniken oder Praxen erst herumprobiert werden muss. Erstdiagnostik bietet einen Anhaltspunkt, und Behandlungserfahrungen können auf Richtungen weisen; mehr aber nicht. Was für den Einzelnen gilt und wirksam (hilfreich) wird, muss herausgefunden werden.
Diagnosen bestätigen sich häufig erst im Langzeitverlauf und selbst dann streiten sich die "Gelehrten" darüber (wenn sie sich denn soweit engagieren). Darum halte ich Vorsicht bei normativen Aussagen für sehr angebracht.
Weil diese Wissenschaft so schwierig ist, verstehen deshalb vielleicht auch Laien (Angehörige, Bekannte) so wenig. Erschütterungen der vertrauten Welt, wie sie durch psychische Erkrankungen vielleicht erlebt werden, sind hochgradig ängstigend und verunsichernd. Vielleicht gibt es eine Art psychischen Schutzmechanismus, der verursacht, dass die Umwelt häufig so ignorant oder ablehnend reagiert. Und vielleicht ist das auch mit ein Grund, warum Betroffene sich zuweilen scheuen, ihre Probleme mit einem Arzt oder Therapeuten zu besprechen. Es ist hierzulande offenbar immer noch nicht selbstverständlich, dass normal oder Norm nur ein mathematischer Wert ist, der aus einer Menge errechnet wird; der Einzelne also niemals die Norm in Gänze erfüllen kann.
Was heisst das für Betroffene? Ich denke, zum einen die größtmögliche Sorgfalt bei der Auswahl der Behandler (nicht Hausarzt, sondern Facharzt; wechseln, wenn kein Vertrauen entsteht; wenn einem selbst nicht möglich ist, das einzuschätzen, Vertrauenspersonen um Rat fragen), zum anderen Kontaktaufnahme und regelmässiger Austausch mit anderen Betroffenen. Selbsthilfe halte ich für einen wichtigen und unterstützenden Aspekt. Therapeuten ausprobieren: nicht ohne Grund sind in Therapien die ersten Sitzungen dafür da, um
beiderseits auszuprobieren, ob die gemeinsame Arbeit fruchtbar werden kann. Ich halte es nicht für angebracht, den Friseur sorgfältiger auszuwählen als den Therapeuten.
Puh, sorry, das ist nun sehr lang geworden.