Schein, Fantasie und Realität
day_and_night bemerkte: "psychologie im BDSM ist ein spiel zweier mit der fantasie - in deren folge man real fühlt was eigentlich nur so scheint."
Wir haben hier im JC nun schon lange genug und fruchtbar diskutiert, dass es sehr verschiedene Vorstellungen von Dom-Sub-Beziehungen gibt. Und selbst diese wandeln sich im Laufe der Jahre.
Ich polarisiere Argumente gerne, zerre sie ins Extrem, weil ich glaube, dass von den Extremen her deren innewohnende Struktur besser sichtbar wird als nahe bei deren Mitte. Aber das Leben ist nicht so, ist nicht theoretisch, sondern praktisch, vielfältig, bunt, täglich verschieden.
"Die" Sub und "den" Dom gibt es sowieso nicht – auch das haben wir uns gegenseitig klar gemacht. Von daher ist auch die Frage nach der Rolle der "Psychologie" in Dom-Sub-Beziehungen nicht allgemeingültig zu beantworten.
Ich hatte Belinda in ihre Eingangsposting so verstanden, dass sie auf die vielfältigen seelischen Ebenen hinweisen wollte, die in einer Dom-Sub-Beziehung vielleicht stärker zum Vorschein kommen als in Beziehungen ausserhalb des BDSM. Einer Frau zu befehlen greift heutzutage in intimere Räume ihrer Seele als sie zu vögeln. Im BDSM öffnen sich deshalb zwei Menschen mehr als im Sex ausserhalb BDSM. Daher mag die Frage berechtigt sein, ob wir diesem besonders "offenen" Verhältnis auch genügend Beachtung schenken.
Dass ich Wissenschaft (die "Psychologie") hierfür nicht unbedingt für zweckdienlich halte, hatte ich schon gesagt. "Theaterwissenschaften" wären die geeignetere Wissenschaft, gemäss day_and_nights Einwurf, wir würden mit unserer Fantasie spielen und ein
scheinbares Machtgefälle erzeugen, weil es uns – Sub und Dom – kickt. Doch "eigentlich" sind wir beide souveräne Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen. In dem Fall wäre meine Definition als Dom die: Ich bin ein Mann, der sich zu Zeiten in die (gespielte) Dom-Rolle begeben kann, damit meine Frau sich in die Sub-Rolle begeben kann und wir beide darin unsere erotische Erfüllung finden. Und zur Kenntnis der
Mechanismen des Spiels ist Aufmerksamkeit und Sensibilität und Kreativität und vielleicht Theaterwissenschaften von Vorteil.
Ich würde mich auch sehr freuen, wenn die Leser beim Wort "Spiel" nicht immer gleich an "Unernst", "Unverbindlichkeit" oder "ist nicht das Echte" denken würden. Die meisten Spiele auf der Welt sind eine todernste Sache. Und sie nehmen die Mitspieler komplett in ihren Bann (derzeit aktuell: das Börsenspiel – hier geht es um Milliarden Euro).
day_and_night interpretiert "Pychologie" als die Kunst, das Spiel so zu inszenieren, dass die Beteiligten "real" fühlen können, was eigentlich gar nicht real ist, was nur "so scheint". Damit man "real" fühlen kann, was gar nicht "real" ist, muss ein Raum inszeniert werden, der genügend Freiheit lässt, sich für Stunden von der "Realität" so weit abzukoppeln, dass man das Spiel der Fantasie "real" erfahren kann. Dazu gehören Techniken, wie die Beteiligten (Dom und Sub) ins Spiel gelangen können, wie auch, wie sie wieder herausfinden. Der Unterschied zum klassischen Theater wäre, dass das Stück, das gegeben wird, in dem Augenblick erst geschrieben wird, in dem es aufgeführt wird. In der modernen Kunst nennt man das "Happening". Die Schauspieler agierten spontan, ohne vorgefertigten Text.
Dom kommt im Spiel eine besondere Verantwortung zu, weil er zugleich Spielleiter und Mitspieler ist. Zudem muss er die "Bühne" für das Spiel bereiten, auch wenn er Sub befiehlt, die Requisiten bereit zu legen.
Die "psychologische" Verantwortung, nach der Belinda fragt, läge darin, dass Dom verhindern muss, dass Sub das Spiel, das "real" scheinen soll, mit der "Realität" verwechselt. Darüber hinaus muss er verhindern, dass
er das Spiel mit der Realität verwechselt.
Aber Belinda fragt weiter - und verlässt den Raum des Spiels – nach dem "Idealfall": "daß der Dom seiner Sub Selbstsicherheit und einen klaren geraden Weg an die Hand gibt. Mit dem Ziel, eine Frau soweit zu förden, daß sie selbstbewußt durchs Leben schreitet und bereit ist, in allen Lebenslagen kosequent zu leben, keine Traumschlösser zu bauen."
Damit haben wir den Bezirk des BDSM verlassen. Denn Selbstsicherheit ist eine allgemeine menschliche Qualität und hat mit BDSM nicht viel zu tun. BDSM wäre ein Werkzeug, das Selbstbewusstsein einer Frau zu fördern, indem sie sich in die Sub-Rolle begibt. Wahr ist daran, dass eine Frau, wenn sie sich zu ihrem Devot-Sein oder zu ihrer Schmerzleidenschaft bekennt, eine
Selbstbejahung vollzogen hat – und Selbstbejahung ist der Grund für Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein: "Ich bin, wie ich bin, und das ist gut so.".
Das Problem daran ist, dass Sub die
Verantwortung für diesen Prozess in Doms Hände legt, obwohl das
Ziel des Prozesses nach Belinda gerade darin bestehen soll, dass sie selbst Verantwortung für sich übernehmen soll, also selbstsicher und selbstbewusst wird. Und zudem vernachlässigt Belinda die Frage, was den Dom von dem ganzen Prozess am Ende für sich selbst hat.
Mir scheint, dass sich hinter Belindas Frage eine Sehnsucht verbirgt: "Dom, zeige mir, wie ich deinem Idealbild entsprechen kann, dann weiss ich, dass du mich ewig lieben wirst, und das gibt mir das Gefühl des Geborgen-Seins!" Die "Psychologie" des Doms wäre damit eine Technik, die hilft, dass Sub von diesem Prozess möglichst wenig merkt.
stephensson
art_of_pain