Säue treiben
Ich versuchte es schon anzudeuten: es gibt zwei Perspektiven auf den Begriff der Tabulosigkeit:
- Eine(r) kann von sich behaupten, tabulos zu sein, kann sich als tabulosen Menschen announcieren, kann davon träumen, sich selbst für tabulos zu halten (im Falle eines Mannes steigt dann der Blutdruck im Glied, im Falle einer Frau erhöht sich die Anzahl der wöchentlich zu waschenden Slips um einen), kann davon träumen, tabulos behandelt zu werden oder kann sich in den Prozess hineinsteigern, jedes Tabu, das er in sich entdeckt, zu brechen.
- Eine(r) kann Tabulosigkeit von einem anderen Menschen fordern, weil es ihn kickt, den anderen über dessen Tabu– (Scham-)grenzen zu treiben.
Der Threaderöffner hat
nicht klargestellt, auf welche der beiden Perspektiven sich seine Frage bezieht.
Aus dem Tonfall seines Postings schliesse ich dennoch, dass er sich auf Typ A bezog.
Die Mehrzahl der bisherigen Postings bezieht darauf, dass Typ A nicht existiert und Typ B moralisch verwerflich sei. Wenn's gar nicht mehr anders geht, wirft man 'mal schnell den Begriff "krank" in die Debatte. So ist man sicher, die Applausklatscher hinter sich zu haben.
Interessant finde ich, dass alle bisherigen Meinungen, die Tabulosigkeit für Unsinn oder Realitätsferne hielten, sich befleissigten, an Extrembeispielen nachzuweisen, dass es Tabulosigkeit nicht geben könne. Sie benutzten dazu zwei Argumentationsmuster: 1. Befehl zur Selbstzerstörung (der "Fenstersprung"), und 2. die Ekelgrenze (der "Hundehaufen").
Geschenkt. Viel interessanter wäre es doch, zu ergründen, warum sich jemand als "tabulos" bezeichnet, was er damit verbindet, welche Erwartungen er mit diesem Begriff an sich und andere hat, welchen Gewinn er sich davon erhofft, dieses Prädikat sich anzuheften. Ebenso interessant wäre es, zu fragen, wer von einem anderen Tabulosigkeit fordert, und welchen Gewinn er für sich selbst hat, wenn der Andere sich tatsächlich tabulos verhält. Diese Aspekte kamen in der bisherigen Diskussion zu kurz.
Ich stöberte neulich in den anderen Ecken dieses Freudenforums und fand einen häufig genannten Begriff, der mich sofort an die Tabulosigkeitsdiskussion erinnerte:
versaut
Ich beobachtete fasziniert, dass dieses Wort
in positivem Sinn gebraucht wird: es ist eine begrüssenswerte Eigenschaft (in den Kreisen der JC-Poster), wenn jemand als "versaut" gelten darf.
Säue, heute zu Ausgangsstofflieferanten für McDonald's degradiert, pflegen ihr Fell, indem sie sich im Schmutz, Dreck und Schlamm suhlen. Der Mensch dagegen, zumindest seit der bürgerlich-moralischen Geschichtsepoche, versucht sich gerade dadurch als Mensch in seinem Glanze darzustellen, indem er sich von allem Schmutz fernhält. Persil, Vorwerk, die frische Fa, Hakle feucht sind Glanzlichter dieses Emanzipationsprozesses. Seine restriktive Moral setzte dieser Mensch durch, indem er alles, was nicht in dieses moralische Raster passt, als
Schmutz bezeichnet. Die arme Sau war damit als Sinnbild des schmutzigen Lebewesens hochwillkommen.
Jemand, der total versaut ist, hält sich nicht an die Tabus, die bürgerliche Sexualmoral aufgestellt hat. Als besonders schmutzig gelten seit dieser bürgerlichen Epoche die menschlichen Exkremente. Daher verwundert es nicht, dass Urinspiele (in einer anderen Ecke dieses Forums) die Emotionen hochkochen liessen, bis die Postings nur noch in Polemik ausarteten. In diesem Licht ist es auch erklärlich, dass hier mit "Hundehaufen" argumentiert wird. Es gibt genügend Säugetiere, die von Zeit zu Zeit ihre eigenen Exkremente fressen, und es wird Zeit zu erkennen, dass Ekel kein Faktum, sondern eine kulturell anerzogene Reaktionsweise von uns Menschen ist.
Tabulosigkeit wird im Horizont dieser Betrachtung zum antibürgerlichen Kampfbegriff, der sich gegen die Unterdrückung einer lustbetonten Lebensweise wendet.
Dass Tabulosigkeit, ins Extrem gedacht, nur bei gleichzeitiger Inkaufnahme des eigenen Vergehens, des Todes, zu erreichen ist (und im extremen Extremfall nur einmal, nämlich final), ist kein Argument gegen die positive Besetzung des Begriffs. Ein Ähnliches widerfährt auch dem Begriff
Freiheit. Auch die Freiheit ist, absolut gedacht, in diesem Leben nicht zu erreichen. Dennoch schmälert dieser Umstand nicht unser Sehnen nach ihr.
stephensson
art_of_pain