Wille und Tabu
Wie funktioniert Tabulosigkeit "i.S.v." Willenlosigkeit (stella)? Und ist sie dann "charakterlos"?Damit wird behauptet, das Besitzen von Tabus sei ein Zeichen von Willen. Mir leuchtet daran ein, dass ein Mensch ohne Willen keine Chance hat, Tabus, die er in sich trägt, durchzusetzen. Denn Tabus sind Grenzen, sind "Nein"s, und das Aufrechterhalten von Grenzen erfordert Willen. So weit so gut.
Gibt es willenlose Menschen? Ich denke nicht. Es gibt jedoch Menschen, die ihren Willen ihrer Bedürftigkeit nach Geliebt-Werden (durch die/den Dom) opfern. Das heisst nicht, sie seinen willenlos. Sie fokussieren ihren Willen auf das Geliebt-Werden.
Es gibt drogensüchtige Menschen, deren einziger Wille es ist, sich mit Stoff zu versorgen. Ihre einst vorhandenen Tabus opfern sie auf dem Altar ihrer Sucht. Aber willenlos sind sie nicht.
Menschen mit Charakter sind solche, die in sich Prinzipien tragen, die sie selbst aufgestellt haben oder die ihnen von der Gesellschaft aufoktroiert wurden. Wenn sie diesen Prinzipien konsequent folgen, sagen wir, sie hätten "Charakter". Wenn sie ihre Prinzipien ständig nach den für sie am günstigsten scheinenden Umständen abändern, nennen wir sie "charakterlos".
Ich denke, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Hat man einmal erkannt, dass Tabus Konstrukte in unserem Bewusstsein sind, die von aussen uns eingepflanzt wurden, bedarf es einer gehörigen Portion von Willen, tabulos zu werden. Denn das Überschreiten von Tabus macht uns Angst. Und der tabulose Mensch ist mitnichten der charakterlose Mensch, da er keinesfalls unberechenbar ist.
Tabulosigkeit hat zwei Aspekte: Sie kann aktiv gewollt sein oder gleichsam passiv durch Hilflosigkeit sich einstellen, also erzwungen sein. Die selbstbewusste Sub, die weiss, was sie will, greift sich den ersten, die liebesbedürftige unterliegt dem zweiten Aspekt. Erstere stärkt sich an ihrer Tabulosigkeit, letztere wird daran zerbrechen.
Sucht ein Dom eine tabulose Sub, geht es meist um etwas völlig anderes. Er leidet daran, sein erotisches Kopfkino bisher nicht ausleben gekonnt zu haben. Er glaubt, die Auszeichnung der "Tabulosigkeit" einer Sub gäbe ihm den Freifahrschein, endlich seine Träume zu leben, ohne ständig mit den "Nein"s seiner Gegenüber in Konflikt zu geraten.
Es gehört nicht zum Thema, aber wieviele Doms, die sich tabulose Subs wünschen, sind selbst tabulos?
stephensson
art_of_pain