Ich muß ofinterest natürlich recht geben: bei weitem nicht alles, was sich in unserem "Über-ich" befindet, ist Unfug, und eine vollständige Emanzipation von den Inhalten des Über-Ichs, die wir irgendwann einmal in uns vorfinden, wenn wir beginnen, darüber nachzudenken, ist nicht in meinem Sinne und wohl auch nicht tatsächlich möglich. Letztlich ist es ja unser Über-Ich, daß uns auch davon abhält, dem Alten Mütterlein, daß an der Kasse im Supermarkt vor uns den Betrieb aufhält, um stundenlang in seinem prähistorischen Geldbeutel nach passenden Groschen zu fahnden, einfach den Schädel einzuschlagen, wie es fast jeden von uns sicher irgendwann einmal schon gelüstet hat.
Insofern muß ich mich für mein schlampiges letztes posting entschuldigen.
Das Über-Ich ist die Instanz, die es uns ermöglicht, uns sozial zu verhalten. Der Mensch ist nun mal ein "animale soziale", ein "zoon politicon" - ob man will oder nicht: man lebt mit den Mit-Menschen zusammen, muß mit ihnen zurechtkommen, kooperieren. Wer sein Über-Ich vollständig über Bord werfen will, wird zum Antisozialen, zum Gewohnheitskriminellen, und dann zwangsläufig zum "Knacki". Doch auch "Knackis" haben ein Über-Ich - es hat lediglich völlig andere Inhalte, als das Über-Ich eines normal sozialisierten Menschen. Es ist ein Über-Ich, daß die Mitmenschen in ranghöhere und rangniedere Komplizen - und in Opfer einteilt, mit den Sonderkathegorieen der "Schmiere" und der Ärzte, die ja auch der Knacki gelegentlich braucht ... Woran man aber sieht, daß das Über-Ich durchaus variabel ist. Dies ist auch der Kern des Problems der Kriegsheimkehrer: das "Du sollst nicht töten" ist durch ein "Du sollst Töten!" ersetzt worden - neben einigen weiteren anderen, höchst unschönen Veränderungen. Und bekanntlich kommen viele von diesen Veteranen nach Jahren an der Front, wo sie sich oft prächtig bewährt hatte, vielfach ausgezeichnet worden waren, sodann nicht mehr in der zivilen Gesellschaft zurecht.
Aber das sollen nur illustrative Beispiele dafür sein, daß unser "Über-Ich" nicht ein für allemal festbetoniert ist, sondern Veränderungen durchaus zugänglich ist.
Diese Veränderungen kann man auch selbst ganz bewußt herbeiführen - nicht von jetzt auf gleich, aber in einem überschaubaren Zeitraum.
Mir ist zB der Prozeß durchaus gut erinnerlich, in welchem ich mich vor einem Vierteljahrhundert von meiner Ablehnung meiner homosexuellen Seite - "Ich bin doch nicht schwul - ich doch nicht !" lösen mußte, weil deren Unterdrückung zu Entbehrung und Leid geführt hatte. Also mußte ich tief durchatmen und mein Über-Ich dementsprechend und insofern anpassen, so daß eine psychische Harmonie wiederrum möglich geworden ist. Aber auch das ist nur ein Beispiel.
Was dahinter steckt - im Sinne der threadstarterin: es gibt eine ganze Reihe von Normativa, die in unserem Über-Ich verankert sind, und die mitunter weniger gut in knackigen Formulierungen leicht zu erfassen sind wie: "Du sollst nicht töten!" oder "Ich bin doch nicht schwul - ich doch nicht !" - Es können auch weitaus komplexere Strukturen sein, die zB unsere Vorstellungen von sexuellen Beziehungen betreffen können, und die es verursachen, daß wir mit manchem "ein gutes Gefühl" oder eben ein "schlechtes Gefühl" haben, in der Art, wie es Aurelya oben so unglaublich treffend beschrieben hat.
Das Über-Ich ist uns nicht vollständig bewußt, ebenso wie das "Es" - die Grenze zwischen Bewußtem und Unbewußten (oder Unterbewußtem) durchzieht unsere gesamte Persönlichkeit. Auch unser "Ich" ist uns niemals vollständig bewußt - so paradox dies klingen mag. Wer's nicht glauben mag, möge sich daran erinnern, wann er zum letzten mal seinen Wohnungsschlüssel o.ä. gesucht hat. Auch unsere Realität kann uns nur zu einem kleinen Teil wirklich bewußt sein - ein Großteil dessen, was wir unsere Realität nennen, wird uns erst bewußt, wenn wir damit konfrontiert werden, oder uns einem bestimmten Sektor davon zuwenden. Wer von uns könnte, ad hoc, den Inhalt seines Kühlschrankes genau angeben, seinen Kontostand, oder die Bedeutung der Aufkündigung des Bretton-Woods-Abkommens durch Richard Nixon im Jahre 1973 im Bewußtsein haben ? Aber auch dies soll nur eine Reihe von Beispielen sein.