Ein Einwurf
Also im 21. Jahrhundert ist das doch zumindest zu einem erheblichen Teil eine recht akademische Frage. Ich habe den Eindruck, daß Sexkontakte zunehmend online hergestellt werden - das erste, was man kennenlernt, ist nicht der Mensch, sondern sein "Profil". Und da steht doch schon - zumindest hier im JC oder vergleichbaren Plattformen - ziemlich deutlich drinnen, was man in Punkto Monogamie, Treue etc. von dem jeweils anderen zu erwarten hat. Überspitzt formuliert: wer an einen Menschen, der von sich selbst mitteilt, daß er zB bisexuell ist, Dreier, Vierer und Gruppensex mag, sich für polyamory engagiert, intensive Swingererfahrungen hat usw. - wer an einen solchen Menschen dann die Erwartung monogam-treuen Beziehungsverhaltens anlegt, hat sich seine Frustration ehrlich verdient - und umgekehrt natürlich genauso.Andererseits glaube ich, daß die Fälle doch recht häufig sind, daß zumindest einer von zwei Beziehungspartnern seine von der Erwartung des anderen abweichende Sexualität verleugnet, um eine Beziehung "trotzdem" zu erreichen oder zu erhalten. "Offenheit" und "Ehrlichkeit" sind zwar hehere Werte, für Sonntagsreden und Forumsbeiträge hervorragend geeignet - aber so willig der Geist auch sein mag: das Fleisch bleibt nur zu oft ziemlich schwach.
Der problematischste Fall indessen scheint mir der auch nicht so seltene Fall zu sein, daß einer der Partner zwar für sich selbst das Recht zum polygam-promiskuitiven Verhalten in Anspruch nimmt, sie seinem Partner jedoch keinesfalls zugestehen will, im Gegenteil eifersüchtig über dessen Treue wacht. Diese Konstellation als pathologisch zu bezeichnen, scheue ich mich nicht - aber es scheint eine recht weit verbreitete Krankheit zu sein.
Schließlich scheint mir das Ganze irgendwo schichtspezifisch zu sein. "Gesellschaftliche Werte", normative Systeme schlechthin, die "Moral" - Sexualmoral, Arbeitsmoral, "Steuerehrlichkeit", "gewaltige Anstrengungen" und "Opfer" für irgendwelche großen Ziele: Demokratie, Menschenrechte, Klimaschutz und dergleichen - all diese Ansprüche verlieren nach unten und nach oben zunehmend ihre Zähne. Die Unterschicht interessiert die Vertreter dieser Ansprüche nicht mehr, die Oberschicht erreichen sie nicht. Nur die Mittelschicht sieht sich diesen Ansprüchen ziemlich wehrlos ausgeliefert, befleissigt sich umgekehrt oft mit befremdlich, fast masochistisch wirkendem Eifer darin, solchen Ansprüchen in besonderer Weise Genüge tun zu wollen - "Gutmenschen" sein zu wollen. Die Gesellschaft ist eben insofern keine Pyramide, sondern eine Sanduhr: ganz unten und ganz oben lebt es sich recht ungeniert - nur in der Mitte wird es oft so eng, daß einem schier die Luft wegbleibt.