Das Über-Ich
Das Über-Ich ist der dritte Teil von Freuds Strukturmodell der Psyche. Grob gesagt: das "Es" enthält die Triebe, das "Ich" das aktuelle Bewußtsein von sich selbst, das "Realitätsprinzip", und das "Über-Ich" allerlei transpersonale Wertungen. Und quer durch diese Triade zieht sich eine äusserst unscharfe Grenze zwischen Bewußtsein und Unbewußt-Sein. Scharfe Grenzen wie in der Geometrie gibt es in der Psyche ohnehin nicht.
"Das Gewissen: die Stimme des Staatsanwalts in Dir!" hieß es einmal spöttisch irgendwo - aber dieses Witzwort trifft die Sache auf den Punkt: das "Über-Ich" enthält eben alljene im wesentlichen sozial vermittelten Werte, die sich in Gefühlen wie Schuld, Scham, Ekel, Wahrheitsliebe, dem Gewissen eben, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeitsempfinden und ähnlichen Regungen mehr bemerkbar machen. Ihre Inhalte werden für gewöhnlich nicht bewußt reflektiert. Ich muß bekennen, das Über-ich selbst bislang nur ansatzweise verstanden zu haben - in meiner par-force-Tour durch das Werk von Freud stand es aus gutem Grund ziemlich weit hinten in der Prioritätsliste. Es steht auch ziemlich weit hinten in der Entwicklung von Freuds theoretischem Werk - auch Freud hat sich zuerst für die Triebe interessiert, und erst dann für das "Oberstübchen".
Das "Über-Ich" ist jedoch sicherlich in gewisser Weise ein Antagonist des "Es" - der Triebe. Beispielhaft lässt sich das am Schamgefühl erklären. Wenn wir uns schämen heißt das immer, daß wir einer sozialen Erwartung, die in unserem Über-Ich verankert ist, entgegengehandelt haben, noch dabei sind, oder es vorhaben. Man kann sich ja schon für Gedanken, Ideen und Phantasien schämen ... Im "Fremdschämen" äussert sich die peinliche Empfindung, wenn jemand anderes diesen Erwartungshaltungen nicht genügt.
Ich meine, daß die Restriktionen unserer sexuellen Triebe, die wir im Zuge unserer sexuellen Sozialisation aufgesammelt haben, in dem Über-Ich ihren Platz haben. Wir schämen uns zB herkömmlicherweise für Nacktheit und Sexualität schlechthin, aber auch gewisse einzelne sexuelle Handlungen, wie das "fremdgehen" oder einzelne Praktiken, die wir zwar ausführen oder ausführen wollen, aber eben mit "schlechtem Gewissen".
Meine Vermutung geht dahin, daß die Resktriktion von Sexualität auf den Bereich innerhalb einer "Liebesbeziehung" eine Funktion dieses "Über-Ichs" ist. Denn das, was wir für gewöhnlich Liebe oder Liebesbeziehung oder Beziehung nennen (die Begriffe sind hier m.E. sehr unscharf) ist mehr oder weniger eine - manchmal leicht modifizierte - Kopie der christlich-abendländischen Ehe mit ihrem Anspruch auf Exklusivität. Ein Indiz dafür ist für mich eben die Tradition des "Fremdgehens", also des Verstoßes gegen diesen Exklusivitätsanspruch - aber eben: mit mehr oder weniger (gut beruhigtem) schlechten Gewissen.
Ekel und Scham kann man sich abgewöhnen, regelrecht abtrainieren. In gewissen Berufen ist das unabdingbar: die Heil- und Pflegeberufe wären ansonsten kaum auszuüben. Die Beispiele von Sexualität und Nacktheit zeigen auch, wie stark unser "Über-Ich" von unserem aktuellen sozialen Umfeld, dem aktuellen Zustand unserer Kultur abhängig sind. Das Maß an öffentlicher Sexualität und Nacktheit, an daß wir uns heute gewöhnt haben, hätte noch vor 20, 30 Jahren Stürme der Entrüstung ausgelöst. Diese Entrüstung gibt es heute noch - nur gleicht sie einem Sturm im Wasserglas.
Der unerfreulichste Beleg für die Relativität des Über-Ich und der darin beheimateten Werte ist für mich: der Krieg. Die friedlichsten Mitbürger und zärtlichsten Familienväter, denen man niemals soetwas wie einen Mord zutrauen würde, werden zu Killern - zu wahren Massenmördern, wenn sie etwa ein MG oder eine ähnliche hocheffektive Tötungseinrichtung bedienen. Und wenn das Ganze vorbei ist, wieder Frieden herrscht - dann kehren sie in ihrer großen Masse wieder zu ihrem friedlichen, bürgerlichen, mitmenschlichem Verhalten zurück. Niemand merkt es ihnen an, daß sie bis vor kurzen tagein tagaus dutzende, hunderte, tausende ihrer "Mitmenschen" umgebracht haben. Auch das stimmt natürlich nicht ganz, das Problem des "coming-home" (so der Titel eines einschlägigen New-Holiwood-Films) ist nicht minder bedeutsam, als das des "coming-out", und wohl weitaus tragischer. Der Mensch hat nun mal aggressive und destruktive Triebe, die für gewöhnlich in irgendeiner Weise beherrscht, sublimiert, kompensiert werden können - aber jederzeit wieder zum Leben erweckt werden können. Die Fälle kriegerischer Mordrunst tauchen immer wieder auf - von entsprechenden Massakern wissen wir von den antiken Schriftstellern, dem Alten Testament und aus den aktuellen Medien. Neuerdings verfolgt man sie gerne als Kriegsverbrechen - früher pflegte man sie stillschweigend zu amnestieren. Was besser ist, darüber kann man trefflich streiten, ist aber gottseidank nicht unser Thema.
Unser Thema ist Liebe und Sexualität - weitaus erfreulicher als diese Metzeleien. Ich glaube, daß auch diese Verbindung von Liebe und Sexualität eine Sache dieses höchst variablen und relativen "Über-Ichs" darstellt, durch das bei vielen von uns, wahrscheinlich den allermeisten, eine mehr oder weniger stabile Restriktion der Sexualität auf die Liebesbeziehung erfolgt. Solange dabei eine Harmonie der Psyche und ihrer Teilbereiche insgesamt vorliegt, ist das keineswegs als negativ anzukreiden. Alle unserer Triebe unterliegen derartigen Restriktionen, und auch eine offen gelebte Promiskuität kommt ohne sie nicht aus. Nur das diese Restriktionen natürlich etwas andere Inhalte haben. Das eine wie das andere Sexualverhalten kann zur psychischen Harmonie führen, ja erforderlich sein. Führt es jedoch zur psychischen Disharmonie, kommt man "nicht damit zurecht", dann sollte man sich darüber wohl Gedanken machen, an welcher Stelle man ansetzen kann, um wiederrum eine Harmonie herstellen zu können.