...sondern erlöse uns von der Liebe
Mit diesem Motto von Suzanne Brogger ("Monogamie - der Kannibalismus unserer Zeit") will ich mich noch mal zu (m)einem zentralen Gesichtspunkt des Themas äußern, der leider nur am Rande diskutiert wurde.
Bevor man sich an einer Antwort versucht, ob die "sexuelle Revolution an uns vorbeiging", müsste geklärt werden, ob die sexuelle Revolution wirklich eine Revolution war. Ich meine nein und will das begründen.
Der Revolutionsbegriff kann in diesem Fall nur soziologisch oder geistesgeschichtlich interpretiert werden, auch wenn von den geistigen Vätern und Teilen der 68er-Bewegung enge Verknüpfungen zu politischen Strukturen geknüpft wurden.
Als geistige Väter sind vor allem Wilhelm Reich und von den Vertretern der "Frankfurter Schule" vielleicht Herbert Marcuse zu nennen, die beide zentrale Erkenntnisse Freuds aufgriffen, aber zu fundamental anderen Schlussfolgerungen gelangten als dieser. Freud zählt heute unbestritten zu den geistesgeschichtlichen Revolutionären. Sein Verdienst ist es ein innovatives Menschenbild entworfen zu haben, das einen Paradigmenwechsel einleitete. Einerseits machte er die menschliche Seele erstmals zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und befreite sie aus ihrer metaphysischen Verklärung, zugleich jedoch setzte er dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus deutliche Grenzen. Freud war jedoch zugleich Reaktionär, indem er zu dem Schluss kam, dass der Widerspruch zwischen Kultur ("alles, womit sich der Mensch gegen die Natur schütze und/oder was das Zusammenleben der Menschen regle") und menschlicher Natur ("Triebe") unaufhebbar sei, ja die Aufgaben der Kultur geradezu einen Abzug von Energie aus dem Sexualleben erforderlich machen. In diesem Sinne seien gesellschaftliche Regeln, wie die der Monogamie zu rechtfertigen.
Diese zentrale These brachte Freud in unversöhnlichen Widerspruch zu einigen Schülern, von denen nur Reich einem breiteren Publikum bekannt ist. Reich zog diametral andere Schlussfolgerungen. Er sah in der Unterdrückung des Sexualtriebes die Ursache für psychische Strukturen des Menschen, die eng zusammenhängen mit Aggressionsbereitschaft und Anfälligkeit für faschistische Ideologien, also einer friedlichen Kultur entgegenstehen. Demzufolge sei sexuelle Befreiung geradezu eine notwendige Voraussetzung zur persönlichen Befreiung von Neurosen und zur Beseitigung bzw. Verhinderung unterdrückender Machtverhältnisse.
Vertreter der "Frankfurter Schule" wie Adorno, Horkheimer und Marcuse betonten immer wieder eindrücklich den Zusammenhang zwischen autoritärem Charakter und Triebunterdrückung, Sexualangst und gesellschaftlicher Repression.
Uns allen ist das Bild vom Schwanz-Ab-Stammtischschwätzer geläufig, der entweder bösartig eigene unterdrückte Wünsche auf andere projiziert, oder sie sich daherschwadronierend mit großmäuligen verbalen Phantasien erfüllt, möglicherweise gar diese in seiner ganz normalen Alltagsschizophrenie in Sausen alla Ballermann (oder war's Thailand) und klammheimlichen Mini-Sausen im nahen Puff auslebt. So weit eben der Geldbeutel reicht bzw. die Kontrolle seiner Frau nicht reicht.
Lassen wir ihnen ihren vermeintlichen Spaß. Alle Menschen aus ihrem Unglück erretten zu wollen, soll den "Gut-Menschen" vorbehalten bleiben. Ungemütlich wird's jedoch, wenn diese beileibe nicht als Randgruppenerscheinung abzutuende Kleinbürger-Ungemütlichkeit zum wohligen Geborgenheitsgefühl mutiert, vermittelt durch bestimmte diese Bedürfnisse erfüllende Ideologien. Reich und Marcuse wussten, wovon sie schrieben.
Bis hierhin kann ich wohl des Beifalles der meisten "Aufgeklärten" sicher sein. Zum Sich-Erhaben-Fühlen über derlei Spießertum gehört nicht viel. Doch warum einhalten mit Häme, wenn es um uns selbst geht, um mein und unser ganz persönliches Spießertum.
Sublimation allenthalben, wenn man vanman85 glauben darf. Müde saturierte Ex-68er, die auch ihren Träumen nachhängen. Träumen von freier Liebe und Kommune 1. Zeit hat man ja, die Kinder sind aus dem Haus, wenn es beim Pädagogenpaar je eigene gab, das Häuschen in der Toskana ist fast abbezahlt, aber Sex wird wohldosiert in Form ritualisierter Küsschen auf diversen Vernissagen praktiziert. Italienische Küche in mediteranem Ambiente bietet origiastische Freuden, wenn die orgastische Potenz darniederliegt . Ja, Ambiente heißt eine der Worthülsen, die zusammen mit anderen Leerworten eine nicht (an)greifbare Ideologie der Andersartigkeit (oder etwa sogar Überlegenheit über jene Stammtischschwätzer, die – der political correctness sei dank – vehement verneint wird) beschreiben.
Was ist so anders ? Sicher, das Weltbild ist liberaler, differenzierter, komplexer. Aber weshalb, so frage ich mich, wenn ich einen Film über ein etwas älteres Mittelstandsehepaar in der Krise sehe, weiß ich meistens schon, wie es weitergeht. Er geht fremd, oder sie geht fremd oder beide gehen fremd. Dabei finden er oder sie (oder beide) "die große Liebe" oder sie raufen sich wieder zusammen. Ist letztlich auch gar nicht so wichtig.
40 Jahre nach der sogenannten sexuellen Revolution und über 60 Jahre seit Erscheinen von Reichs "Sexuelle Revolution" hat sich nicht so sehr viel geändert. Vergessen ist, dass Marcuse, die Abschaffung der institutionalisierten Kleinfamilie forderte, vergessen ist, dass Teile der 68er die monogamische Zweierbeziehung als Keimzelle des repressiven bürgerlichen Staates ansahen. Nein, ganz bestimmt hat kein Paradigmenwechsel stattgefunden, der das Charakteristikum einer geistigen Revolution ist.
Marcuse würde sich im Grabe drehen, würde er sehen, wie seine Forderungen verkorrumpiert wurden, und in dialektischer Ironie ihn doch bestätigen, indem in unserer von ihm so treffend analysierten eindimensionalen Gesellschaft, selbst radikalste Gesellschaftskritik weichgespült in das System integriert und darüber hinaus nutzbar gemacht wird. Scheinbar "sexuell befreite" Menschen werden zu zahlungskräftigen Kunden der Sexindustrie. Geld stinkt nur nicht sondern ist auch nicht unanständig. Menschliche Bedürfnisse werden heute vielleicht mehr denn je verkommerzialisiert. Auch ich fühle ein Unbehagen bei der Nutzung von (seriösen) kommerziellen Sex-Portalen.
Die sogenannte sexuelle Revolution ist das Paradebeispiel für die Naivität, zu glauben, sich diesem Mechanismus entziehen zu können. Der heilige Stand der Ehe ist nicht mehr die Norm, warum auch ? Die ehedem verpönte "Ehe ohne Trauschein" entspricht dem Zeitgeist und erfüllt etwas abgespeckt und aufgepeppt zugleich die nämlichen Funktionen. "Bis dass der Tod Euch scheidet" wird zum Auslaufmodell. Muss dieser kirchlichen Zwangsverpflichtung nachgeweint werden ? Mitnichten. Lebensabschnittspartnerschaften erfüllen bei weitem besser die sich wandelnden Anforderungen unserer immer stärker flexibilisierten Arbeitswelt.
Der Abgesang auf die Zweierbeziehung war verfrüht. Die Totgesagte hat Verjüngungskuren erfahren, kosmetisch operiert und zeitweise durch Liebeserfahrungen tranquiliziert wird sie an Wellness-Abenden im Swinger-Club aufgepäppelt.
Das Paar ist Dreh- und Angelpunkt. Egal, wie man zum sprachlichen Relativismus steht, die Sprache bringt es an den Tag. Es gibt "meine Frau", "meine Partnerin", "meine Lebensgefährtin", "meine Freundin", das war's schon fast. "Meine Geliebte" ist eventuell noch denkbar, spricht aber auch für eine gewisse Exklusivität und Dauerhaftigkeit. Für alle Beziehungsformen, denen nicht das Merkmal der Exklusivität und/oder Dauerhaftigkeit eigen ist, fehlen die Worte. Die Worte fehlen würden sicherlich auch einem Gastgeber von mir, dem ich sagen würde, ich bringe "eine meiner Partnerinnen" mit ("eine meiner Freundinnen" wäre unverfänglich, würde aber einer derartigen Beziehung nicht gerecht).
Es gibt Ehepaare, glückliche und unglückliche. Es gibt Paare ohne kirchlichen Segen, es gibt Lebensabschnittspaare, wobei niemand so recht weiß, ob der Abschnitt in Monaten oder Jahren gemessen wird. Es gibt Paare im Swinger-Club mit "netten Männern" als zahlungskräftige Beigabe. Es gibt Seitensprünge und Affären, die ihre alleinige Existenzberechtigung dem Umstand verdanken, dass es Paare gibt. Wo kein Paar, da kein Seitensprung. Es gibt lesbische Paare, es gibt schwule Paare. Es gibt Liebespaare, es gibt Paare ohne Sex, es gibt Ehepaare auf dem Papier und UND es gibt Singles. Letztere immer mehr .
Für die meisten ist das Single-Leben eine oft unwillkommene Pause zwischen zwei Partnerschaften. Meist sind Singles Menschen im Wartestand, die den Menschen suchen, "wo alles passt". Die Negativität des Begriffes als Pendant zum Paar rührt kaum mehr her vom Paar, das sich als "Normalfall" definiert, sondern vom Single selbst, dessen Selbstverständnis – und sei es nur uneingestanden – als unfreiwillige zu überwindende Negation des Paares empfunden wird. Eine dialektische Aufhebung der Gegensätze scheint möglich, wenn vergessene oder irregeleitete Forderungen der "sexuellen Revolution" wieder ins Bewusstsein gehoben werden. Dann geht es nicht darum – frei nach O'Neill – eine "offene Ehe" nach einem neuen Typ der Monogamie zu führen, auch nicht darum den Ehealltag durch Partnertausch aufzufrischen. Es geht aber auch nicht darum, die Nicht-Exklusivität nach dem Motto "Wer zweimal mit derselben pennt" zum Dogma zu erheben. Es geht um die Entkoppelung von so vielen Bedürfnissen, deren Befriedigung von e i n e r Partnerschaft erwartet wird, sowohl bei Paaren als auch bei Singles als potenziellen Paarhälften. Gelingt dies, gäbe es keinen Grund mehr, sich als Teil eines Paares oder als Single zu definieren.
Zum Abschluss, um endlich das Motto meines Beitrages mit Leben zu erfüllen, zitiere ich nochmals Suzanne Brogger
Liebe ist der reinste Zynismus. Man kann nicht von ein und derselben Person sowohl Omelett als auch Liebe verlangen. Wenn man trotzdem, entgegen jeder Vernunft darauf besteht, alle Bedürfnisse beim Koch, oder wer der Geliebte auch immer sei, befriedigt zu bekommen, wird die Zweierbeziehung ein reines Geschäft, bei dem die Neurosen sich unentwirrbar potenzieren
Dem Zynismus Liebe begegnet Suzanne mit Zynismus, der so entlarvend vernünftig ist, dass er schon wieder unvernünftig erscheint. Ich will diese Unvernunft weiterspinnen.
Der Essenssuchende geht zum Gemüsehändler, der schöne Erdbeeren im Angebot hat, erwartet aber nicht, dass er bei ihm auch Brot und Milch kaufen kann. Warum verhält sich der Beziehungssuchende anders ? Er sieht schöne Erdbeeren (ob er sie auf seinem Einkaufszettel hatte oder nicht, sei dahingestellt), kauft diese und hofft, dass der Händler auch gutes Brot und vieles mehr hat. Das mag ab und zu der Fall sein. Dass der Händler aber auf Dauer auch gute Socken, schöne Rosen und hörenswerte CD's im Angebot hat, halte ich für eher unwahrscheinlich. Man bedenke, selbst den teueren gut-sortierten Feinkostladen gibt es in jeder größeren Stadt ungefähr genauso selten wie den Märchenprinzen. Und von jedem guten Bäcker oder Obsthändler zu erwarten, dass er zum MINI-MAL-isten wird, ohne dabei zum Minimalisten zu werden, ist ähnlich infantil wie der Glaube an den verzauberten Frosch.
Jetzt bin ich hungrig geworden und hab Lust auf eine gute Pizza. Ich werde zu meinem Lieblingsitaliener gehen. Letztes Wochenende war mir nach fernöstlichen Speisen, ich war beim "Chinesen". Übrigens hat mir der Wirt meines Stammlokales lächelnd guten Appetit gewünscht, er weiß, dass er den besten Rostbraten weit und breit serviert.