Der Lauf der Dinge
Montagmorgen, ICE, in meinen Arbeitsblättern versunken. Schnell, mit monotonem Schaukeln gleitet die Landschaft von Nord nach Süd an meiner Netzhaut schemenhaft vorbei. Vor mir, in taubenblau, die Lehnen zweier Sitze, nur durch einen Spalt getrennt. Ich gehe meinen Vortrag durch, mache Randnotizen, nippe an meinem halblauen Frühstückskaffee und lasse die Sonne auf mein Manuskript, eine stumme, freundliche Begleiterin in den Tag. Das schwingende Wiegen des Waggons gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit, ähnlich einem Baby, im wohligwarmen Mutterschoß.
Meine Gedanken schwimmen, mischen sich, rattatatam-rattatatam, mit dem unermüdlichen Refrain des Zugs - und bleiben hängen: Zwei Stimmen, sanfte warme Stimmen ziehen mich zu den beiden Sitzen, die sich wie hochgelassene Zugbrücken vor mir auftun, zwischen denen ich, nur spaltbreit, fragmentarisch, teilhaben darf. Sanft, ja, sie sind sanft. Eine Frauenstimme und er, wohl auch in gleicher Art gestimmt, lassen, so wie die Landschaft draußen, fern der Fensterscheiben, mir, dem unfreiwilligen Voyeur, ein Stück vertrauter Zweisamkeit erkennen. Wie zärtlich sie mit ihren Worten sind, die beiden, wie vetraut sich ihre Gedanken streicheln, umarmen, ja fast umschlingen, so, als wären sie hier, frisch verliebt, allein. Mir kommt das Bild einer zeitlich weit entfernten, doch vom Gefühl noch immer nahen Freundin, einer, neben der ich saß, am Ufer eines Sees weit nach dem die Sonne ihr Antlitz hinter dem Horizont verbarg, wortlos neben ihr, so nah, so intensiv vertraut, dass es keines Blickes, keines ausgesprochenen Gedankens bedarf, um zu spüren, was wir uns bedeuteten.
Schaukeln. Schaukeln ist Geborgenheit, das ist in uns seit Jahrmillionen Jahren. Ich bin so nah bei den beiden, hinter den hochgezogenen Brücken, dass ich mich schon, nach vorne gebeugt, mich durch den Spalt zwängen sehe, um das Flüstern, das Herzen, das leise Lachen ganz zu verstehen, fast süchtig schon, bei ihnen zu sein. Mein Manuskript macht sich selbstständig, flattert zu Boden. Und als ich es aufhob, mich zurücklehnte, sah ich, wie zwischen beiden Vordersitzen zärtlich zwei Hände sich berührten - faltig, mit Leberflecken dekoriert, doch voller Zartheit, wie das schönste Zeichen von Dankbarkeit am Ende ihres Lebens...