Dazu noch einige Auszüge von den Websites des Magnus-Hirschfeld-Archivs für Sexualwissenschaft, der Humboldt Universität zu Berlin, die dazu ausführliche Informationen über das menschliche Sexualverhalten hat:
Das menschliche Sexualverhalten
Der Begriff „menschliches Sexualverhalten" ist heute so verbreitet, dass man sich kaum noch vorstellen kann, dass er erst in neuerer Zeit entstanden ist. Schließlich hat es schon immer zwei menschliche Geschlechter gegeben, die sich zueinander hingezogen fühlten. Menschen haben immer intimen körperlichen Umgang miteinander gehabt und so neues Leben gezeugt. Man kann auch annehmen, dass sie dies immer sehr bewusst taten, und so scheint es, als sei das „menschliche Sexualverhalten" eine einfache und allgemeingültige Bezeichnung für einen Vorgang, der so alt ist wie die Menschheit selbst.
Wenn wir feststellen, dass Menschen immer schon bestimmte Dinge getan haben, so dürfen wir daraus nicht unbedingt schließen, dass sie diese Dinge auch immer gleich interpretierten. Wie jeder Historiker und Anthropologe weiß, unterliegt die Wahrnehmung auch der einfachsten Vorgänge erheblichen historischen und regionalen Einflüssen. Die Linguisten wissen, dass auch scheinbar einfache Wörter in anderen Sprachen oft keine genaue Entsprechung finden und dass sie im Verlauf der Jahre ihre Bedeutung erheblich ändern können.
Dies gilt ganz besonders für das Wort ,,Sex" und alle Wörter, die davon abgeleitet sind. Natürlich kannten die Menschen im Altertum und im Mittelalter Dutzende oder sogar Hunderte von Wörtern für die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane und für den Akt der Kopulation. Sie sprachen davon, „fruchtbar" zu sein und ihr „eigen Fleisch und Blut" zu zeugen. Sie wussten, was es bedeutete, einen Menschen zu küssen, zu umarmen oder zu liebkosen. Sie kannten sinnliche Freude, körperliche Reize und Erregung. Sie sprachen ganz offen von Liebe, Begehren, Hingabe, Zärtlichkeit, Leidenschaft, Minne, Amor, Eros, Cupido und Venus. Manche zeigten sich gerne nackt oder bewunderten die Nacktheit anderer. Manche.versuchten, ihre „Sinneslust" zu zügeln und sprachen mit Abscheu von Lüsternheit, Geilheit, Unzucht, Wollust oder Versuchungen des Teufels. Sie warnten davor, „unrein" zu werden, sich zu „beflecken" oder den „Samen zu vergeuden". Manche priesen Keuschheit, Sittsamkeit, Enthaltsamkeit, Unschuld und Jungfräulichkeit, und sie verdammten Fleischeslust, Schande, Versündigung gegen Gott und Verbrechen wider die Natur. Bei näherer Betrachtung können wir jedoch feststellen, dass unsere Vorfahren all dies noch nicht zu einem einheitlichen Begriff des „Sexualverhaltens" zusammenfassten. Sie interpretierten diese ganz unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen, Handlungen und Einstellungen noch nicht als miteinander in Beziehung stehende Ausdrucksformen einer und derselben Sache. ...
Die sexuell Unterdrückten
Im 18. Jahrhundert soll einmal ein Philosoph einem seiner Gegner gesagt haben: „Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zum Tode Ihr Recht verteidigen, sie auszusprechen". Dieser Grundsatz fasst den Geist der Aufklärung sehr treffend zusammen, einer Zeit, als die Menschen versuchten, sich von ihren intellektuellen und moralischen Fesseln zu befreien, und als erstmals in der Geschichte der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle erscholl. Von diesem Geist wurden auch die Gründer der Vereinigten Staaten geleitet, als sie in der Verfassung jedem Bürger die Freiheit der Rede, der Religionsausübung und der Presse garantierten.
Diese Freiheitsrechte sind in der Zwischenzeit in vielen Teilen der Welt anerkannt. Die Ideale der Toleranz und des Individualismus, das Recht auf Selbstbestimmung und die Freiheit der Person haben im Verlauf der vergangenen 200 Jahre Aufnahme in die Verfassungen und die Gesetzgebung der meisten modernen Staaten gefunden. In unserem Jahrhundert wurde die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" durch die Vereinten Nationen verabschiedet, durch die alle Mitgliedsstaaten sich auf die Durchsetzung dieser Rechte verpflichten. Damit ist - zumindest theoretisch - die Befreiung der Menschen weitgehend abgeschlossen.
Leider sind die Dinge in Wirklichkeit wesentlich weniger ermutigend. Offiziell unterschreiben die meisten Regierungen zwar die Worte des zitierten Philosophen, inoffiziell behandeln jedoch immer noch viele von ihnen jede abweichende Meinung als Verrat. Einige moderne Staaten sind so tatsächlich - trotz aller freiheitlichen Phrasen - wesentlich repressiver als das schlimmste mittelalterliche Königreich.
All dies ist natürlich hinreichend bekannt und soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Was jedoch nicht jedem bewusst wird, ist, dass selbst in den toleranteren westlichen Ländern diese Toleranz nur für bestimmte Bereiche des menschlichen und sozialen Lebens gilt. Besonders zwei Verhaltensformen werden weiterhin irrational und oft einschneidend beschränkt: Drogengebrauch und sexuelle Aktivität. Niemand in öffentlicher Funktion ist bislang bereit zu sagen: „Ich billige Deinen Konsum von Drogen nicht, aber ich werde bis zum Tode Dein Recht verteidigen, sie einzunehmen", oder „Ich billige Deine sexuellen Interessen nicht, aber ich werde bis zum Tode Dein Recht verteidigen, ihnen nachzugehen." Die meisten Menschen würden solche Äußerungen nach wie vor skandalös und unverantwortlich finden. Drogen und Sexualität bleiben weiterhin die großen Tabus unserer Gesellschaft.
In letzter Zeit sind so auch früher tolerante Gesellschaften unter westlichem Einfluss Drogen und Sexualität gegenüber sehr ängstlich geworden. Daher überrascht auch die Feststellung nicht, dass in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" nichts über das Recht des Menschen über seinen eigenen Körper zu lesen ist. Das Dokument formuliert lediglich ein „Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen" und ein Recht auf freie Wahl des Ehepartners (Art. 16). Über das Recht auf sexuelle Aufklärung und sexuelle Erfüllung, die freie Wahl des Geschlechtspartners und der sexuellen Handlung, das Recht auf Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbruch wird nichts gesagt. Diese Liste wäre noch erheblich zu erweitern. Leider kann auch kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine offizielle Erklärung, die diese Rechte zu fordern wagte, mit überwältigender Mehrheit ablehnen würde. Zu viele Mitgliedsstaaten akzeptieren Sexualität nach wie vor nur innerhalb der Ehe und nur zum Zweck der Fortpflanzung. ...
Quelle:
http://www2.hu-berlin.de/sexology/ATLAS_DE