Ein interessantes Thema. Danke dafür!
Ich werde im Folgenden zunächst die Fragen hinsichtlich eines heterosexuellen Mannes beantworten, der theoretisch als Partner für mich in Frage käme. Ich zitiere original, daher möge der geneigte Leser in Gedanken "Frau" durch "Mann" ersetzen.
1. Ihr seht in der Stadt eine Frau, die offensichtlich Narben von Selbstverletzungen trägt. Was geht euch dabei durch den Kopf?
Das kommt auf den Menschen an, wie er insgesamt wirkt. Wirkt er - beispielsweise - dabei selbstbewusst oder mitleiderhaschend? Letzteres mag ich zugegeben nicht so. Da muss ich spontan an einige Teenager denken, die teilweise (nicht alle) sogar damit hausieren gehen, dass sie Narben haben. Oder sie so ganz "beiläufig" erwähnen (was für mich auch ein Aufmerksamkeitsschrei ist). Im Grunde verdienen sicher auch diese diese Aufmerksamkeit, nach der sie - der eine deutlicher, der andere weniger - schreien, aber ich empfinde das als unangenehm. Diese mir persönlich unangenehme Art habe ich aber bisher eigentlich nur bei jungen Mädchen erlebt.
Sehe ich dann aber einen Mann in der Stadt, der selbstbewusst und gefestigt wirkt oder einfach nur durch seine authentische Art insgesamt sympathisch, dann tun die Narben ihm keinen Abbruch, sondern ich denke mir "Oh, der hat einiges erlebt und wird vermutlich auch Dinge verstehen, für die die Masse nur verständnisloses Kopfschütteln übrig hat." Ich würde mir denken, dass man sich mit ihm vermutlich gut unterhalten könne. Ob das so ist, weiß ich dann nicht, aber das wären erste Gedanken, die mir durch den Kopf schössen. So gesehen würden die Narben ihn wohl sogar sympathischer machen als ein augenscheinlich "makelloser" hübscher Schnösel, der womöglich noch nie in die emotionalen Abgründe von uns Menschen geblickt hat, mir wäre.
2. Ihr seid zu einer Party von Freunden eingeladen. Gemütlich sitzt ein Teil zusammen und plaudert. Neben euch sitzt eine Frau mit Narben von Selbstverletzungen. Wie fühlt ihr euch dabei? Sprecht ihr sie drauf an? Wie geht ihr mit ihr um?
Ob ich den Mann darauf anspräche, hinge davon ab, ob andere zuhören könnten und wenn ja, wie die allgemeine Stimmung und Vertrautheit der Gruppe wäre. Ich möchte ihn ja nicht bloßstellen. Das Interesse, der Drang, nachzufragen, wären wohl da. Aber ich würde erst sicher gehen, dass es für niemanden unangenehm wäre, weder anderen noch ihm. Denn wenn ich ihn nur flüchtig kenne, könnte das auch, selbst wenn es nur unter vier Augen wäre, unangenehm für den Mann selbst sein, wenn ich ihn das einfach fragte. Ansonsten würde ich es wenn, behutsam tun aber auch nicht mit zu viel Mitleid (selbst wenn ich es empfände), denn je nach Mensch kann das unerwünscht sein, als ob ich in fremder Narben herumpulen würde. Auch das liegt mir fern. Eine Pauschalantwort kann ich also nicht geben. Es käme ganz auf viele Faktoren an.
3. Ihr werdet mit solch einer Frau intim. Erst als ihr euch auszieht, werden die Narben sichtbar. Ein Schock für euch? Oder Nebensache? Hättet ihr gerne vorher davon erfahren?
Oft ist es so, dass ich schon, bevor ein Mensch mir seine Narben zeigt oder davon erzählt, ahnen kann, dass er wohl welche trägt. Von daher wäre das vielleicht trotzdem ein kleiner Schock, aber nicht, als hätte ich nie im Leben damit gerechnet. Ob ich gerne vorher davon erfahren hätte? Vielleicht. Aber andererseits, wenn jemand damit schon total abgeschlossen hat und die Umstände, unter denen die Narben entstanden sind, heutzutage wirklich nicht mehr relevant sind, weil er die Sache wirklich authentisch verarbeitet hat, hielte ich es für vermessen zu erwarten, dass jemand mit seinen Narben hausieren geht "Guck mal, was ich habe, damals ging es mir schlecht." Warum, wenn es ihm heute gut geht?
Sollten wir aber mal auf seine Vergangenheit zu sprechen gekommen sein, Themen, die in diese Richtungen gehen oder sogar explizite Fragen und er hat sie verneint, fände ich das schon enttäuschend, wenn ich dann sehe, dass er mich vielleicht sogar angelogen hätte. Wer nämlich soweit ist, dass er mit mir so intim werden darf, sollte mir so vertraut sein, dass er mich zumindest nicht anlügen müsste. Dies, wie erwähnt, im Falle, dass man bewusst mal über solche Themen gesprochen hätte.
4. Wären solche Narben bzw. das selbstverletzende Verhalten ein Grund, euch nicht mit dieser Person einzulassen (sexuell oder sogar partnerschaftlich)?
Je nachdem wären Narben und erst Recht noch aktuell selbst verletzendes Verhalten definitiv ein Grund, zumindest aufmerksam aufzuhorchen, ob ich die Stärke habe, damit zurecht zu kommen. Vor allem, wenn die Narben noch frisch sind, zeigt das ja, dass er sehr tiefe Schmerzen und Probleme hat.
Es ist ja nicht nur, dass er Narben hätte oder sich zufügte aus reinem Selbstzweck. Das könnte zeigen, dass er mit Problemen nicht offen umgehen kann, sondern mit seinen wahren Gedanken und Gefühlen hinter dem Berg hält, in sich hineinfrisst, dir eine heile Welt vormacht und dir dann die Schuld gibt, dass du ihn dazu getrieben hättest, sich selbst zu verletzen oder ähnlich. Damit könnte ich nicht klarkommen.
Aber ich würde deswegen nicht einen solchen Mann 100%ig als Partner ausschließen. Denn ich weiß, dass "solche" Menschen oft auch andere wunderbare und liebenswerte Eigenschaften haben können, die "andere" oft nicht haben. Es hat immer alles eine Licht- und Schattenseite. Und vielleicht wäre ich zufällig genau die richtige Person, die ihn durch meine natürliche Art heilt, weil er durch mich irgendwie ein Aha-Erlebnis bekommt. Oder den Anstoß, sich in eine gute Therapie zu begeben. Und, und, und. Das Leben hat viele Facetten, Menschen auch. Keiner, der sich selbst verletzt, gleicht dem anderen, auch wenn es gewiss gewisse Parallelen und Schnittmengen geben mag.
Diese meine Worten seien daher als Gedankenfetzen zu verstehen, keine Pauschalisierungen. Ich bin vorsichtig, aber auch offen gegenüber verschiedenen Menschen und lasse mich gerne überraschen, wem ich noch begegne.