Wirklichkeit zulassen
Ich packe auch alles Unverstandene in Schubladen! Und stimme zu, dass sie den Zweck gut erfüllen, mich nicht orientierungslos zu fühlen.
Aber: Ich bin mir auch bewusst, dass sie die Wirklichkeit nicht gut widerspiegeln. Sie verzerren und ergänzen um Schubladeninhalte, die mit dem Beobachteten nichts zu tun haben. Die Schubladen sind also nur vorläufige Hilfsmittel -
gute Hilfsmittel. Für den ersten Überblick.
Doch für die endgültige Betrachtung von Wirklichkeit (oder das Bemühen um wirklichere Wirklichkeit) sind sie in meinen Augen hinderlich. Man könnte natürlich einwänden, schlichtweg nichts, auch Menschen nicht, hätten ein endgültig wahres Wesen. Dennoch kann man sich von Wirklichkeit mal mehr, mal weniger entfernen, oder etwa nicht? Ich will es lieber nicht so weit weg davon.
Interessant fand ich die gelöschten Beiträge aber doch, denn sie haben bei mir etwas angestoßen. Durch ihre extremeren Beispiele kam ich sozusagen an den Rand meiner Definition von "egal". Stelle ich im Nachgang fest, dass ich von "etwas", von jemandem befriedigt wurde, und dieser Umstand verstößt gegen ethische Grundsätze von mir, oder überschreitet eine zu hohe Ekelgrenze, dann gerate ich in einen schlimmen Zwiespalt.
Stelle ich also nach dem Aufdecken der Augenbinde, nach dem Anschalten des Lichts fest, dass ich beispielsweise von jemandem befriedigt wurde, der dazu gegen seinen Willen gezwungen worden war, dann stelle ich fest: A) es war sehr befriedigend, B) ich verabscheue Zwang und bin unglücklich, dass ich durch so etwas befriedigt wurde. Ich wurde selbst dazu gebracht, etwas Verabscheuungswürdiges zu genießen. Ich würde Zeit brauchen, den Widerspruch ertragen zu lernen.
Es bleibt aber die Tatsache, dass es befriedigend war - egal wie unglücklich ich danach dann bin. Das muss ich mir eingestehen, es ist die Wahrheit. Mir ist es wichtig, meine inneren Widersprüche genau zu fühlen, sie zu ertragen, mit ihnen gut leben zu können.
Stelle ich mir vor, ich ekelte mich vor Männern, dann müsste ich mir nach verdeckter Befriedigung durch einen Mann eingestehen, dass ich trotz meines Ekels befriedigt wurde. Könnte ich dann sagen: Es ist mir offenbar egal, ob es ein Mann oder einer Frau war?
Einerseits ja: Denn die Befriedigung ist eingetreten, und für diese isoliert betrachtet scheinen Männer mich befriedigen zu können, solange ich nicht angeekelt werde (Verhinderung des Ekels in diesem Fall durch Nichtwissen).
Andererseits auch nein: Denn Männer ekeln mich in diesem Beispiel an, also bekomme ich vielleicht im Nachhinein noch einen Ekelanfall.
Ich sehe aber auch: Es müssen schon schwere Argumente wie Ekel oder ethische Grundsätze sein, die diesen Widerspruch auf Dauer erhalten. Vorurteile hingegen (und da komme ich wieder zu den Schubladen) kann ich auf diese Weise revidieren. Ich hatte BDSM gegenüber harte Vorbehalte ethischer Art - weil ich dem Vorurteil angehangen hatte, dass "man" ja nicht freiwillig Sub sein könne und es sich folglich um die Ausbeutung einer Persönlichkeitsstörung handeln müsse, wenn man sich als Dom gerierte. Vorurteil ist revidiert, und ich wieder ein Stückchen klüger.