Eine Zukunftsvision (allerdings eine ziemlich zeitgemäße) wäre die Liberalisierung und Enttabuisierung. Sex wird offener, freier, ungezwungener. Das wird nicht selten damit verbunden, dass sie kapitalisiert wird: Mehr Sexpartner = höheres Sozialkapital, das Besondere geht verloren, Beliebigkeit zieht ein.
Die Gegenvision ist eigentlich die Wiederkehr der Repression; Homosexualität wird verboten, Sex zur Fortpflanzung, stärkere Monogamie.
Als Poststrukturalist würde mich sehr ein Roman interssieren über eine Gesellschaft in der die geschlechtliche Konnotation gar keine Rolle spielt. Also z.B. eine Autorin, die ihren Roman schreibt und danach aus der Geschichte alles herausnimmt was direkt auf ein Geschlecht anspielt: Verhaltensweisen, Beschreibungen, Namen.
Das wäre eine Gesellschaft in der Geschlecht als Spektrum angesehen wird und es für die Leute einfach uninteressant ist, wo genau du auf dem Spektrum angesiedelt bist. Dafür könnte sich in der Gesellschaft die Klasse, Stand, das soziale Standing als wichtig erweisen. Der erste Blick auf einen Menschen wäre nicht auf seine sexuelle Einteilung gerichtet, sondern auf seine soziale Verortung. Es gäbe keine "Frauenunterwäsche", sondern frei nach scifi-Slang "Alpha-Abteilung", "Beta-Abteilung" und wenn ein Delta und Beta-Kleidung auftaucht... was für ein Typ ist das denn bitte?!
Allerdings weiß ich nicht, ob das nicht gerade zu fremdartig wird und wieviele Autor_innen es gibt, die überhaupt fesselnde Plots schreiben können, die nicht auf die geschlechtliche Verortung angewiesen sind.
Eine andere Möglichkeit wäre das Aufbrechen der Kleinfamilie, Monogamie und Heterosexualität.
Z.B. eine Gesellschaft in der die Ganzheitlichkeit und Authentizität übertrieben wird und allein die gelebte Bi-Sexualität akzeptiert und heroisiert wird. (Nur wer zu seiner weiblichen und männlichen Lust steht, ist ganz bei sich. Alle anderen sind gefangen in Vorurteilen... ich meine, kann jemand wertvoll sein, der es eklig finden, wenn zwei Menschen Lust zueinanderfinden?) Das wäre natürlich weniger radikal als oben, weil hier die Binarität der Geschlechter beibehalten wird.
Zumal auch schon in der Gegenwart jede/r den Sex haben kann, den sie/er haben will
Wüsste ich nicht um deinen Charakter, hätte ich hier Zynismus vermutet.
Die heutige Zeit wird immer noch von so vielen Tabus und Geboten durchzogen, dass ich dir doppelt widersprechen würde:
1. Es gibt überhaupt keine freie Entwicklung des "Wollens" da wir alle ständig mit Idealen, Verboten, Lob, Tadel, Drohungen, Zuckerbrot beschossen werden.
2. Zeigt der Joyclub nicht, dass eben kaum jemand seine Sexualität einfach so ausleben kann, sondern sich Menschen mit Interessen jenseits der monogamen Zweierbeziehung auf speziell für sie eingerichteten Webseiten suchen müssen?
Ich kenne eigentlich niemanden, der den Sex bekommt, den er/sie will. Das klingt vielleicht traurig, ist es aber gar nicht. Denn viele Menschen sind zufrieden mit dem Sex, den sie bekommen, weil er in der Abwägung der pro's und contras in Ordnung ist.
Die Contras sind Stigmatisierung (die schläft wohl mit jedem), berufliche Nachteile (kein Sex mit Arbeitskollegen), Gefährdung der Beziehung (Monogamie) oder der Freundschaft (was wird aus der Freundschaft, wenn ich mit ihm geschlafen habe?). Es kann aber auch Furcht sein (Ich und zwei Männer allein, was, wenn sie etwas tun was ich nicht will) oder die Angst eine sexuelle Phantasie entpuppt sich als eklig.
Kurz: Passend in unserem Wollen strukturiert, bekommen wir was wir wollen. Aber wehe wir wollen nicht so, wie wir zu wollen haben!