Ich möchte an dieser Stelle einfach mal die Geschichte von einem Drachen erzählen, der als neuer Bewohner in ein Dorf einzieht und schon bald die Dorfbewohner mit seinem einfach nicht enden wollenden, nächtlichen Gesang so sehr stört, dass sie nachts nicht mehr schlafen können.
Verzweifelt wollen die Dorfbewohner den Drachen zum Schweigen bringen, indem sie ihm eine riesige Menge Kartoffelbrei kochen, und zwar in der Hoffnung, er möge doch bitte daran ersticken. Als das nicht gelingt, versuchen sie ihn unter einer Glocke einzuschließen, und nachdem auch diese List missglückt, bieten sie ihm Wein an mit dem Hintergedanken, ihn auf diese Weise einschläfern zu können. Aber auch dieser Versuch ist vergeblich.
Erst als ein kleines Mädchen die schlichte, aber eigentlich naheliegende Idee hat, den Drachen einfach mal höflich zu bitten, mit dem Singen aufzuhören, weil sonst niemand im Dorf nachts schlafen kann, hat es mit dem Gesang ein Ende - und die erstaunten Dorfbewohner finden zu ihrer Verblüffung wieder Ruhe.
Diese Geschichte, aus einem Kinderbuch der französischen Autorin Évelyne Reberg zitiert und für Euch hier kurz zusammengefasst, ist ein schönes Beispiel für das, was man "gewaltfreie Kommunikation" nennt.
Die vier Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation sind nämlich:
1. Teile dem anderen mit, was Du beobachtet hast! Wenn Du durch das Verhalten eines anderen irritiert oder verärgert bist, dann beschreibe zunächst - bitte nicht vorwurfsvoll und nicht wertend (!) - das Verhalten, das dich irritiert und die konkrete Situation, in der es aufgetreten ist. "Hallo Drache, in den letzten zwei Nächten hast du so laut gesungen, dass es im ganzen Dorf zu hören war und wir alle nicht schlafen konnten."
2. Teile dem anderen mit, was du empfunden hast! Beschreibe einfach nur, wie es Dir persönlich damit geht bzw. was das Verhalten und die Konsequenzen davon in Dir selbst an Gefühlen auslöst.
"Wenn ich nachts wegen Deines Gesangs nicht schlafen kann, werde ich gereizt und fühle mich am nächsten Tag erschöpft und übermüdet. Ich merke, dass ich richtig sauer auf dich werde."
3. Teile dem anderen mit, was dein Bedürfnis ist! Informiere den anderen über dein Bedürfnis, das durch sein Verhalten nicht genügend berücksichtigt wird bzw. unerfüllt bleibt.
"Ich muss nachts ausreichend lange schlafen, damit ich mich am nächsten Tag frisch und ausgeruht fühle und alles erledigen kann, was zu tun ist."
4. Teile dem anderen mit, was du dir wünschst! "Ich wünsche mir, dass du nachts nicht mehr singst, damit ich mal wieder schlafen kann".
Natürlich wird in einer Konfliktsituation selten so durchdacht kommuniziert. Statt dessen wird alles meistens zu einem einzigen allgemeinen Vorwurf verdichtet. ("Immer musst du so laut singen!").
Die konkrete Situation wird durch Verallgemeinerungen vernebelt ("immer, nie"). Das eigene Empfinden drückt sich eher indirekt in einem vorwurfsvollen Unterton oder der gereizten Stimmlage und der abwertenden Wortwahl aus ("Ich kann deinen Gesang nicht mehr ertragen! Dieses Gekrächze jede Nacht. Das hält ja kein Mensch aus! Es ist ganz klar, dass du mich zu mobben versuchst!"). Die Enttäuschung, die Verletzung, das Bedürfnis dahinter wird jedoch häufig verschwiegen ("Ich fühle mich wie gerädert, kraftlos, erschöpft ...").
Statt eines klar geäußerten Wunsches ("Sing doch bitte nicht mehr nachts, damit wir wieder zu unserem Schlaf kommen") wird geschimpft, gedroht, gejammert, mit Dritten über den Drachen gelästert, ohne ihn selbst zu informieren, und diagnostiziert: "Der hat wohl nie gelernt, auf andere Rücksicht zu nehmen. Was für ein Egoist!" oder "Der macht das bestimmt nur deshalb, um uns zu ärgern!"
Nun könnte man denken: Na ja, das mit der gewaltfreien Kommunikation mag ja in der Theorie funktionieren, aber ich kenne Drachen, die singen dann trotzdem einfach weiter.
Ja, das kann durchaus sein. Manchmal liegt es daran, dass scheinbar die vier Prinzipien befolgt wurden, der Wunsch dem anderen jedoch so vorwurfsvoll entgegengeschleudert wird, dass er eine ähnlich einladende Wirkung hat wie ein kunstvoll geschwungener Knüppel. Und das ist hier in unserer Gruppe leider mehr als einmal passiert, und zwar nicht nur von einer Seite aus.
Unsere wahre Haltung, mit der wir einen Wunsch ausgesprochen haben, zeigt sich nämlich häufig in unserer eigenen Reaktion darauf, wenn unserem dringlichen Wunsch nicht Folge geleistet wird.
Reagieren wir nämlich beleidigt, ärgerlich oder eingeschnappt, dann war es auch gar kein Wunsch, sondern ein Befehl bzw. eine Forderung, die wir nur als "Wunsch" verkleidet haben.
Es gibt noch andere Varianten, mit denen man die eigentlich kraftvolle Wirkung dieser Prinzipien zunichte machen kann. Zum Beispiel das ewige Jammern, um endlich das Mitleid anderer zu wecken ("Siehst du denn nicht, wie ich leide, wenn du immer so singst!"), anstatt aufrichtig mit der Klärung zu beginnen ("Ich will schlafen, du willst es lebendig, was können wir also tun, damit jeder zu dem kommt, was er braucht?").
Und trotzdem: die Befolgung der vier Prinzipien in der Kommunikation (Mitteilen von Beobachtung, Empfindung, Bedürfnis und Wunsch) ist nur der halbe Weg zu einem neuen Miteinander. Die zweite Hälfte des Weges bedeutet wertschätzendes Zuhören und Erkundigen - sofern man dazu noch in der Lage ist. Denn je größer der Ärger ist, auf dem man bereits sitzt, desto vergifteter ist man innerlich, und wenn man dann den Mund aufmacht, spuckt man notgedrungen erst mal "Gift und Galle".
Das Mädchen könnte den Drachen z. B. fragen: "Warum willst Du denn eigentlich die ganze Nacht singen?" Und der Drache würde vielleicht antworten: "Ach, ihr blöden und langweiligen Dorfbewohner! Kaum bringt man etwas Leben in euer verschlafenes Dorf, regt ihr euch schon auf!".
Bei solch einer Reaktion würde es vermutlich wenig bringen, ihn höflich darum zu bitten, sein Anliegen nochmals gewaltfrei zu formulieren. Aber wir können vielleicht durch Nachfragen und Zuhören beim Sortieren und Konkretisieren helfen, z. B.: "Du hättest es also gerne nachts lebendiger - und deshalb singst du dann so gerne?" Und der Drache würde vielleicht sagen: "Genau! Und noch schöner wäre, du würdest auch mitsingen!"
Die Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation bieten keinerlei Garantie, dass sich das Verhalten des anderen ändert. Sie erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine gemeinsame Lösung finden - und zwar dann, wenn es uns gelingt, respektvoll über die dahinterliegenden Bedürfnisse eines jeden zu sprechen, anstatt uns gegenseitig unsere Verhaltensweisen vorzuwerfen.
Ob der Drache übrigens nach seinem Gespräch mit dem Mädchen aus dem Dorf gejagt wurde oder einmal im Monat nachts singen darf oder gar den Kindern nachmittags Gesangsunterricht gibt - ich hab keine Ahnung.
Eines weiß ich allerdings genau, nämlich dass jeder von uns in die Rolle des Drachen geraten kann. Und oft genug sind gerade diejenigen, die anderen ständig etwas vorwerfen, die wie Geier nur darauf lauern, wann der andere mal wieder in ein Fettnäpfchen tritt, um sich erneut auf ihn zu stürzen, ihn wieder zu maßregeln oder ihm gar vorzuschreiben versuchen, wie er sich gefälligst auszudrücken habe, die eigentlichen Drachen - ohne es zu merken.
Ich persönlich finde es stets deprimierend, wenn ausgerechnet Menschen, die von anderen verlangen, niemals etwas zu bewerten, selbst andere am meisten negativ bewerten oder gar niedermachen. Und dass häufig gerade diejenigen, die sich sogar schon von geworfenen Wattebällchen gleich zutiefst gekränkt und verletzt fühlen, manchmal selber gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen. Als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt und in diesem Leben, als um jeden Preis Recht zu haben und keinen Millimeter zurück zu weichen.
Doch vielleicht ist das nun mal so, wenn zwei oder mehr sich in etwas verbissen haben, der eine genau so wie der andere? Schade ist es trotzdem ...
(Der Antaghar)