Trendforschung
aus der Berliner Zeitung vom 21. Juni 2010
Und wer kocht den Kaffee?
Avatare verdrängen die Sekretärin, Datenbrillen das Fachbuch: Wie Trendforscher sich die Arbeitswelt im Jahr 2020 vorstellen
Lilo Berg
Eine Hand hält das Mobiltelefon, der Blick ist starr darauf gerichtet, die Beine folgen einem geheimen Plan. Wie ferngesteuert wirkt der junge Mann, der sich von seinem Smartphone zum Brandenburger Tor führen lässt. Dort angekommen, schaut er kurz hoch, dann schnell wieder auf sein Gerät, das ihn mit Informationen über Baustil und Geschichte versorgt.
In Zukunft wird der junge Mann sich vielleicht eine Datenbrille auf die Nase setzen. Sie kann genauso viel wie sein Handy, aber er sieht damit wesentlich besser aus. Von einer normalen Sonnenbrille ist der Prototyp, den Dresdner Forscher gerade entwickeln, kaum zu unterscheiden. Wer genau hinschaut, bemerkt die Kabelverbindung zum Smartphone in der Hosentasche, der winzige Chip im Gestell und das speziell ausgestattete Glas fallen nicht weiter auf. Erst beim Durchgucken zeigt sich der Unterschied zwischen normaler Brille und Datenbrille: Mit ihr sieht man die Welt und was dahinter steckt - durch bestimmte Augenbewegungen lassen sich Zusatzinformationen leicht einblenden. Augmented Reality, erweiterte Realität, nennt sich die Technik, bei der die reale mit der virtuellen Welt verschmilzt.
"In zehn Jahren werden solche Brillen nichts Besonderes mehr sein", prognostiziert Michael Scholles. Mit seinem Team am Dresdner Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme hat er sich die Erfindung patentieren lassen und hofft nun auf den großen Erfolg. Reisende reichern das Stadtpanorama mit Hintergrundwissen an, dem Automechaniker liefert die Brille eine Reparaturanleitung zum gerade aufgebockten Fahrzeug und Schwerstgelähmte können damit per Augenzwinkern das Licht im Zimmer ein- oder ausschalten. Michael Scholles präsentierte die schlaue Optik vor einigen Tagen beim Zukunftskongress 2020 auf dem malerischen Schloss Oelber nahe Braunschweig.
Es ist noch gar nicht so lange her, da galten Datenbrillen als pure Science-Fiction. Heute sagen Experten allem, was mit Augmented Reality zu tun hat, gigantische Marktchancen voraus. Die Novität aus Dresden kommt wohl in zwei Jahren in den Handel. Folgen werden Windschutzscheiben, Schaufenster und andere Produkte, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Wie lange wird es da noch dauern, bis der Mensch sich gleich einen Chip ins Gehirn pflanzen lässt, um seinen Horizont zu erweitern, Lustgefühle zu wecken oder auf Knopfdruck perfekt chinesisch sprechen zu können?
Auf dem Zukunftskongress, veranstaltet von dem Leipziger Trendforscher und ehemaligen DDR-Vizejugendmeister im Schach, Sven Gabor Janszky, durfte zwei Tage lang hemmungslos gesponnen werden. Die notorischen Powerpointpräsentationen des Businessalltags waren unerwünscht, stattdessen gab es lockere Vorträge in freier Rede und zwischendurch konnte man sich Zukunftsprodukte wie die Datenbrille, das Buch, die Zeitung oder den Klassenraum der Zukunft näher anschauen. Zwei Tage lang beschäftigten sich etwa zweihundert Tagungsteilnehmer mit der Frage, wie wir im Jahr 2020 leben und arbeiten werden. Interessant war das vor allem, weil so viele unterschiedliche Branchen mitdiskutierten - vom Handel über die Automobil- und Pharmaindustrie bis hin zur Informationstechnologie, sogar die Kirchen waren dabei: Welche Produkte sind in zehn Jahren ausgestorben? Was kommt an Neuem? Wie werden wir lernen? Und was bleibt gleich?
Das Telefax gibt es in zehn Jahren wohl nicht mehr, und auch die Tage der Kundenkarten, Briefmarken und Schlüssel sind gezählt. Das Mailen mit dem Smartphone wird das heute noch so beliebte Simsen verdrängen - darin war man sich bei einer kreativen Aufwärmübung am Morgen einig. Aber was ist mit Bodytuning und Hirndoping? Vor zwei Jahrzehnten tippten sich viele noch an den Kopf, wenn der Nachbar ins Fitnessstudio ging. Heute rennt alle Welt ins Studio, in der Mittagspause wird gebotoxt und in der Schreibtischschublade liegt das Aufputschmittel. Werden wir uns also auch Chips ins Hirn implantieren lassen, sobald es gute gibt?
Ja, sagt Nils Bandelow, Sozialwissenschaftler an der Technischen Universität Braunschweig: "Eines Tages ist es schick, einen Brain Chip zu besitzen - so wie heute ein Smartphone." In den nächsten zehn Jahren ist damit noch nicht zu rechnen. Denn die technischen Probleme bei der Verknüpfung von Nervenzellen und Mikroelektronik sind gewaltig. Angefangen hat die Entwicklung aber schon und zwar in Gestalt medizinischer Anwendungen. Für Taube gibt es bereits Cochlea-Implantate, Blinden kann eine künstliche Retina ein wenig helfen und manche Parkinsonpatienten tragen einen Hirnschrittmacher, der die Krankheitssymptome unterdrückt. Solche Prothesen führen zu einer schleichenden Akzeptanz in der Bevölkerung, beobachtet Bandelow. Andererseits wird wohl auch die Sensibilität für die Risiken zunehmen: Was ist zum Beispiel, wenn ein implantierter Brain Chip verrückt spielt? Wenn er von außen manipuliert wird? Mit Viren verseucht ist? In Zukunft werde es große öffentliche Kontroversen über Brain Chips geben, prognostiziert der Braunschweiger Politologe - so wie zur Stammzellforschung.
Aber wie wird die neue Debatte verlaufen, in einer Welt, in der Millionen Jobnomaden mit Zeitverträgen von Projekt zu Projekt springen und in der die Konkurrenz überall lauert? Die asiatische Bildungsoffensive hat längst begonnen und heute schon reichen chinesische Firmen Aufträge aus dem Ausland an versierte Subunternehmer in anderen Ländern weiter. "Die Arbeit vagabundiert um den Globus und irgendwann kommt sie wieder in Mecklenburg-Vorpommern an", so der schillernde Kommentar von Hans Wagener, Vorstandssprecher der Wirtschaftsprüfungsfirma PricewaterhouseCoopers mit Sitz in Frankfurt am Main. Sein Unternehmen beschäftige derzeit 30 000 Mitarbeiter in Kalkutta, gut qualifizierte, englischsprachige Steuerberater mit einem Jahresgehalt von 2 000 Euro. "Aber wir gehen schon wieder raus aus Indien, nach Vietnam und auf die Philippinen, da ist es günstiger."
Das Internet macht es möglich und seine Bedeutung als Marktplatz wird rasant zunehmen, versichert Wagener: "Derzeit ersteigern wir in Deutschland drei Prozent unserer Aufträge im Netz, bald werden es fünfzig Prozent sein." Und wenn es heute noch die Sekretärin ist, die sich um solche Auktionen kümmert, übernehmen vielleicht schon morgen Avatare ihren Job - virtuelle Agenten, die im Firmenauftrag online unterwegs sind.
Datenbrillen, Avatare, Jobnomaden: Kann Deutschland mit seiner alternden Bevölkerung da überhaupt mithalten? Natürlich, sagt der Bildungsforscher Heinz Mandl von der Universität München, aber nur wenn alle lebenslang lernen. Es stimme einfach nicht, dass der Kopf mit fünfzig am Ende sei - "das Lernen fällt dann etwas schwerer, aber mit dem Erfahrungswissen lässt sich vieles kompensieren." Besonders gut setze sich das neue Wissen fest, wenn es mit der eigenen Arbeitssituation verwoben werde. Zum Beispiel profitieren junge Mediziner davon, wenn sie dem Oberarzt beim lauten Nachdenken über einen Patienten lauschen können, beim Verwerfen von Hypothesen und beim Erproben neuer Annahmen. Und nach dem Theorieseminar hilft es Ingenieuren, wenn ein Coach sie bei der praktischen Anwendung begleitet. Ob sich da ein neuer Markt für die Universitäten auftut? Sie werden sich nach neuen Betätigungsfeldern umsehen müssen, sobald der aktuelle Studentenansturm vorbei ist. "Dann könnt Ihr fröhlich vor Euch hinforschen oder endlich in die Weiterbildung einsteigen", fordert Hans Wagener die Hochschulen heraus.
Was hat Bestand in dieser fluiden Welt? Wahrscheinlich die Neigung, sich ungern zu verändern, sagt die Trendforschung, und ganz bestimmt die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Sie begleitet den Menschen seit Urzeiten und auch künftig wird der persönliche Kontakt unersetzlich sein. Vertrauen lässt sich eben nicht digitalisieren.