>>SEX<< - das Wort war neu
Alles noch gar nicht lange her....
...aus der ZEIT...von Sybille Steinbacher
.......wer mehr lesen möchte muss mal ein wenig rumgoogeln.....
LG, Odette
»Sex« – das Wort war neu
Die fünfziger Jahre waren eine dynamische Epoche. Doch im Ehe- und Familienleben, in der Ordnung der Geschlechter und der Sexualmoral wurde die Zeit mit Macht angehalten.
Frauen hatten in den fünfziger Jahren im Arbeitsalltag nichts zu suchen. Vielmehr wurde die »Hausfrauenehe« zum verbindlichen Ziel
Mit einem harten politischen Kampf hat Elisabeth Selbert eigentlich nicht gerechnet. Die Kasseler Juristin gehört 1948/49 zu den vier Frauen in Bonns Parlamentarischem Rat. Sie ist sich sicher, dass die rechtliche Gleichheit von Mann und Frau auf allen Gebieten in Staat und Gesellschaft im Grundgesetz der neuen Republik verankert wird. Eine Diskussion über eine solche Selbstverständlichkeit – das erscheint der Sozialdemokratin nun wirklich nicht mehr nötig!
Da aber hat sie sich sehr geirrt. Denn kaum steht das Thema auf der Tagesordnung, hebt eine heftige Debatte an. Die große Mehrheit ihrer 61 männlichen Kollegen sieht plötzlich allerlei Klärungsbedarf, und nicht einmal die vier Frauen im Rat scheinen in diesem Punkt einig zu sein. Kern des Streits ist die Frage, ob die staatsbürgerliche Gleichheit von Männern und Frauen, die schon 1919 die Weimarer Verfassung gewährt hat, auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt werden, also auch Familie und Erwerbsleben einschließen soll.
CDU/CSU und FDP lehnen jeden Vorstoß in diese Richtung mit Verve ab, zur Begründung verweist man auf die »Nuancierungen der Natur«. Als das Ratsgremium den Antrag der SPD ablehnt, in der Verfassung Frauen und Männern gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu garantieren, initiiert Elisabeth Selbert eine Kampagne: Frauenverbände und Gewerkschaften rufen zum Protest auf, waschkörbeweise treffen die Briefe ein. Am Ende steht nach insgesamt drei Anläufen in Artikel 3 Absatz 2: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.«
Die Hierarchie der Geschlechter hatte sich mit der Etablierung der bürgerlichen Familie Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet und galt seither (über nationale Grenzen hinweg) als naturgegeben und unveränderbar: Mit der Heirat gab die Frau ihre Rechte auf, verpflichtete sich zu Gehorsam und Dienstleistung gegen ihren Gatten und fand ihren »natürlichen« Ort in der Familie. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schrieben Gesetze den eheherrlichen Patriarchalismus fest. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) blieb bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Hort der Rechtsungleichheit zwischen den Geschlechtern.
Wie sehr die Geschlechterhierarchie in der Adenauerzeit ein Ergebnis der Rechtsordnung war, zeigen die einschlägigen Paragrafen eindrücklich: Ehefrauen besaßen keine Verfügungsgewalt über ihr Vermögen. War keine Gütertrennung vereinbart worden, konnte der Mann mit dem Geld seiner Frau nach Gutdünken verfahren.
Wollte eine verheiratete Frau einem Beruf nachgehen, musste sie ihren Gatten um Erlaubnis fragen und ihm zusichern, dass sie ihre Hausfrauenpflichten nicht vernachlässigen würde. Tat sie es doch, konnte er ihr Arbeitsverhältnis gerichtlich beenden lassen. Bei ehelichen Unstimmigkeiten lag das »Letztentscheidungsrecht« beim Ehemann, dem »Haupt der Familie«, der auch die Erziehungsgewalt über die Kinder besaß (was durchaus wörtlich zu nehmen ist: Das elterliche Züchtigungsrecht wurde in Deutschland erst im Jahr 2000 abgeschafft).
Wollte eine Frau die Trennung, weil sie einen anderen liebte, galt dies im Bürokratendeutsch als »Mehrverkehr«. Eine »schuldig« geschiedene Ehefrau erhielt keinen Unterhalt; heiratete sie wieder, blieb das Sorgerecht für ihre Kinder beim Exmann, der auch das Recht auf die Nutznießung ihres Vermögens behielt.
Zwar war die patriarchalische Ordnung mit dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung unvereinbar, dennoch dauerte es Jahre, bis das Ehe- und Familienrecht revidiert wurde. Widerstand kam vor allem vonseiten der katholischen Kirche, die sich als Hüterin der göttlichen Schöpfungsordnung sah. Sie berief sich auf die katholische Naturrechtsidee und wehrte alles »Moderne« als Bedrohung und Zeichen gesellschaftlichen Verfalls ab. Auf den Einfluss kirchlicher Würdenträger war es zurückzuführen, dass die erste Frist, bis zu der die einschlägigen Paragrafen des BGB dem Grundgesetz hätten angeglichen werden müssen, im April 1953 einfach sang- und klanglos verstrich.
Vier weitere Jahre vergingen bis zur Reform, und viele Male musste Karlsruhe intervenieren. Mit dem Letztentscheidungsrecht des Vaters in Erziehungsfragen fiel 1959 das letzte männliche Privileg. Aber die Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern blieb bestehen, da die Grundrechte, wie es hieß, nicht die Wirtschafts- und Sozialordnung regeln. Anfang der sechziger Jahre lag das Durchschnittseinkommen einer Frau bei 280 Mark, ein Mann bekam für die gleiche Arbeit 550 Mark.
Dabei hatte nach 1945 durchaus die Chance bestanden, die tradierte Geschlechterordnung zu verändern. Schon während des Krieges war sie ins Wanken geraten, als Frauen an der »Heimatfront« Männerarbeit leisten mussten, um die Rüstungswirtschaft in Gang zu halten. Dramatisch veränderte Lebensformen prägten die Nachkriegszeit, als Familien zerrissen waren, Ehemänner und Väter lange Zeit nicht aus der Gefangenschaft heimkehrten, die Zahl der Scheidungen rasant stieg und sogenannte Mütterfamilien entstanden.
Die von Existenzsorgen geplagten Frauen aber interessierten sich kaum für die Neugestaltung der Geschlechterordnung – und das, obwohl ihnen gerade die Amerikaner Gelegenheit dazu boten. Die Besatzer betrachteten junge, politisch unbelastete Frauen als Katalysatoren der Demokratie und förderten ihre Eigenständigkeit, beispielsweise durch Stipendien für die USA. Solchermaßen unterstützt, ging zum Beispiel die 28-jährige Hildegard Hamm-Brücher 1949 nach Harvard; sie war schon damals Mitglied der FDP.
Doch die Parteien blieben Männerdomäne, und der politische Aufbau kam im Wesentlichen ohne Frauen aus. Lediglich ein Prozent der Bundesbürgerinnen war Mitglied einer Partei, die meisten engagierten sich in der SPD. Dass nach Kriegsende im Lande etwa sieben Millionen mehr Frauen als Männer lebten und wegen des mokant als »Frauenüberschuss« bezeichneten demografischen Ungleichgewichts auf 100 männliche Wähler etwa 170 weibliche kamen, schlug sich politisch nicht nieder. Nur 31 Frauen zogen 1949 in den Bundestag ein (und 378 Männer). Eine führende Funktion hatte keine von ihnen inne. Erst gegen Ende seiner Amtszeit duldete Konrad Adenauer eine Ministerin in seinem Kabinett: Die Frankfurter Juristin Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) übernahm 1961 das Gesundheitsministerium.
Die überparteilichen und überkonfessionellen Frauenausschüsse, die Ende der vierziger Jahre entstanden, begriffen Politik als soziales Engagement. Es ging ihnen um gesellschaftliche Harmonie und darum, Versorgungsprobleme zu lindern, nicht aber um Frauenrechte und den Wandel der Geschlechterordnung. Nach all der Not und all den Mühen der Kriegs- und Nachkriegsjahre galt vielen Frauen die Wiederherstellung der schlichten polaren Geschlechterordnung als Weg, um von ihren zermürbenden Aufgaben entlastet zu werden.
Die Familie ist der Grundpfeiler der Sozialordnung – das war Kern der neuen gesellschaftlichen Selbstdeutung. Die Ehe galt als systemstabilisierend, sie wurde zur staatlich geschützten Institution. Das geschah damals so ähnlich in vielen Ländern. In der Bundesrepublik indes legitimierte man diese Politik darüber hinaus mit der Abgrenzung zum »Dritten Reich«. Denn nach naturrechtlicher Auffassung hatte der Nationalsozialismus das Kollektiv über die Interessen der Familie gestellt, was als Abkehr von der »göttlichen Ordnung« und als Zerstörung der deutschen Kultur interpretiert wurde.
Im Staatsorchester dürfen Frauen nur die Harfe zupfen
Der kulturelle Wiederaufbau in der Adenauerzeit auf der Basis »christlicher und abendländischer Werte« zielte darauf, den Säkularisierungsprozess zu stoppen und jeder »widernatürlichen« Entwicklung – den atheistischen Sozialismus eingeschlossen – einen Riegel vorzuschieben. Die Frau im Heim und am Herd sollte »Normalität« garantieren. Die Ergebnisse dieser hoch ideologisierten Familienpolitik fielen denn auch entsprechend aus: Frauen verschwanden aus dem Arbeitsalltag und waren auf die häusliche Sphäre verwiesen; die »Hausfrauenehe« blieb das verbindliche Ziel. Die Sozialpolitik des Wohlfahrtsstaates stützte sie unter den Bedingungen der Vollbeschäftigung bis in die sechziger Jahre.
Darüber soll nicht vergessen sein, wie mühsam Hausfrauenarbeit noch war, zumal elektrische Geräte vorerst Mangelware blieben: Nur in knapp vier Prozent aller Haushalte lief 1953 schon eine Waschmaschine, in den USA waren es fast 80 Prozent. Auch einen Kühlschrank, der drei bis vier Monatsgehälter kostete, besaßen noch die wenigsten.
Trotz ökonomischer Notwendigkeiten blieb es ganz und gar eine Frage des Geschlechts, Berufskarriere zu machen. Für eine Frau endete sie umgehend mit der Heirat: Weil sie kein »Amtmann« sein könne, durfte beispielsweise eine engagierte Münchner Lehrerin in den fünfziger Jahren keine Schulleitung übernehmen. Studienassessorinnen mit exzellentem Abschlusszeugnis bekamen erst eine Stelle im Staatsdienst, wenn alle Männer, auch die mit den schlechtesten Noten, verbeamtet waren.
Frauen durften auch nicht in staatlichen Orchestern spielen, denn sie könnten die Männer irritieren, so hieß es. Nur Harfenistinnen waren geduldet, da es wohl als unmännlich galt, die Harfe zu zupfen. Eines war sicher: Eine Heirat eröffnete Frauen in der Adenauerzeit weitaus höhere Chancen auf den sozialen Aufstieg als ihre eigene Berufstätigkeit.
Die Ehe galt als einzig rechtmäßige Lebensgemeinschaft. Nur die Ehefrau und Mutter entsprach der sozialen Norm, nur eheliche Kinder bildeten die göttliche Schöpfungsordnung ab. Ledige Mütter waren hingegen eine soziale Bedrohung für die »natürliche« Ordnung, und es galt als gerechtfertigt, sie und ihre »Bastarde« der öffentlichen Schande auszusetzen, ihnen Rechte und Erbansprüche zu verweigern.
Selbstredend war jede Form des Schwangerschaftsabbruchs verboten. Selbst Kondome blieben umstritten. Die Debatte darüber zog sich viele Jahre hin und endete 1960 mit dem vorläufigen Verbot, Kondomautomaten auf Straßen und Plätzen aufzustellen.
Dass von der Auflösung der Sexualmoral eine massive gesellschaftliche Bedrohung ausgehe, war eine (nicht nur in Westdeutschland) weitverbreitete Meinung, von der viele Rechtsvorschriften zeugen: Der im Strafgesetzbuch verankerte sogenannte Kuppeleiparagraf, der aus der Kaiserzeit stammte, untersagte es Eltern und Vermietern, unverheirateten Paaren Unterkunft zu gewähren. Auf Kuppelei standen bis zu fünf Jahre Haft, weshalb es für Pärchen ohne Trauschein so gut wie unmöglich war, eine Wohnung zu finden.
Im Visier der Behörden standen insbesondere homosexuelle Männer. Sie blieben nach der systematischen Verfolgung im »Dritten Reich« weiterhin kriminalisiert. Anders als in der DDR galt in der Bundesrepublik der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches in der von den Nationalsozialisten verschärften Version fort. Der Bundesgerichtshof lehnte in zwei Urteilen 1951 und 1952 unter Verweis auf das »Sittengesetz« jede Änderung ab.
Fast 100.000 Männer wurden bis Ende der sechziger Jahre polizeilich registriert; staatliche Überwachung und nachbarliche Spitzelei liefen Hand in Hand. Jährlich kamen etwa 3300 Menschen vor Gericht, von denen die meisten Haftstrafen verbüßen mussten – ein Justizskandal, der bis heute kaum aufgearbeitet ist.
Der amerikanische Biologe Alfred C. Kinsey konstatierte indes schon Ende der vierziger Jahre, dass Homosexualität weitverbreitet und völlig normal sei. Der Sexualforscher landete mit seinen Büchern über das Sexualverhalten von Mann und Frau in den USA Bestsellererfolge.
Als sie Mitte der fünfziger Jahre auf Deutsch erschienen, waren sie nicht minder populär. Sie gehörten zu einer ersten »Erotikwelle«, die damals das gehemmte Land erfasste: Illustrierte nahmen nicht nur Kinseys Forschungen zum Anlass, Titelblätter mit spärlich bekleideten Frauen zu präsentieren. Der Aufstieg der Erotikindustrie schritt voran. Die Fliegerin Beate Uhse gründete ihren Spezialversand schon 1947; vier Jahre später baute sie ihn zum »Versandhaus für Ehehygiene« aus. »Sex« – das Wort war neu – wurde allmählich zum selbstverständlichen Element eines »modern« und »liberal« genannten Lebensstils.
Doch Kirchen und christliche Parteien blieben wachsam. Allen voran der Volkswartbund, der auf den 1898 gegründeten Kölner Männerverein zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit zurückging und seit 1951 als Bischöfliche Arbeitsstelle für Fragen der Volkssittlichkeit seine Tätigkeit fortsetzte. In der Adenauerzeit besaß der Bund zeitweise erheblichen Einfluss.
Ein gern gesehener Gast auf seinen Veranstaltungen und der vielleicht wichtigste politische Verbündete war Franz-Josef Wuermeling. Der CDU-Politiker, ein ehemaliger Zentrumsmann, der 1953 zum ersten Familienminister der Bundesrepublik avancierte, tat sich als entschiedener Gegner der Gleichberechtigung hervor. Für ihn war die Familie die »natürliche Urzelle und Kraftquelle der staatlichen Ordnung«.
Dass Beamtinnen entlassen wurden, sobald sie geheiratet hatten, hielt er für gerechtfertigt und blockierte jahrelang jede Änderung des Beamtengesetzes. Auf diese Weise trug er auch dazu bei, die soziale Integration belasteter NS-Täter zügig voranzutreiben. Denn die frei gewordenen Posten standen nun Männern zur Verfügung, die im »Dritten Reich« Beamte gewesen waren und auf ihre Posten zurückkehren durften.
Auch Unternehmer entließen verheiratete Frauen oder boten ihnen erst gar keine Stelle an; Gewerkschafter stimmten in die Meinungsmache gegen »Doppelverdiener« ein. Eine wichtige Rolle für den Arbeitsmarkt spielte das 1958 eingeführte Ehegattensplitting: Steuervorteile gab es für ein Paar nur, wenn die Frau zu Hause blieb. Der Anteil arbeitender Frauen überstieg in Westdeutschland jahrzehntelang kaum 30 Prozent.
Bill Haley und Elvis Presley sorgen für weitere Gefährdung der Jugend
Ein Buch mit dem Titel Kinder erwerbstätiger Mütter rüttelte 1956 die Nation auf. Sein Autor, der Münchner Pädagoge Otto Speck, beklagte darin ein Heer von »Schlüsselkindern«, mindestens drei Millionen, die täglich ohne die Fürsorge ihrer Mutter sich selbst überlassen seien. Speck entfesselte eine heftige Polemik gegen berufstätige Mütter. Aus egoistischen Interessen, so diagnostizierte er, vernachlässigten sie die Familie, »einerlei ob es sich um eitle Vergnügungssucht, ungesunde Intellektualität, Geldgier, Koketterie oder sonstige Schwächen handelt«.
Specks »Daten« waren aus der Befragung von Lehrern gezogen, die Schulaufsätze zum Thema hatten schreiben lassen. Dass »Schlüsselkinder« seelischen Schaden nähmen, gehörte rasch zum gesellschaftlichen Konsens. Erwerbstätige Frauen sahen sich unter Legitimationszwang gesetzt. Vonseiten der Politik durften sie keine Hilfe erwarten: So gab es 1957 nur für etwa ein Fünftel der vier Millionen Kleinkinder Plätze in Horten und Kindergärten.
Minister Wuermeling kamen Specks »Forschungen« sehr gelegen. Der fünffache Familienvater erklärte die weibliche Erwerbstätigkeit für gemeinschaftszerstörend, denn »für Mutterwirken gibt es nun einmal keinen vollwertigen Ersatz«. Dies richtete sich nicht zuletzt gegen die DDR, wo schon Mitte der fünfziger Jahre mehr als 50 Prozent der Frauen arbeiteten. Mit staatlichen Familienbeihilfen wie Kindergeld, Steuerfreibeträgen und Preisermäßigungen bei der Bahn (»Wuermeling-Pass«) setzte er Initiativen in Gang, um Mütter grundsätzlich von der Berufstätigkeit abzuhalten.
Zumal weitere Gefährdung der Jugend aus Amerika drohte. Vor allem die Musik, der Aufstieg von Bill Haley und Elvis Presley zu Weltstars Mitte der fünfziger Jahre, sorgte für Schrecken. Rock ’n’ Roll, so lautete eine weitverbreitete Auffassung, verweichliche die jungen Männer und sorge für sexuelle Enthemmung unter den Mädchen und Frauen. Die Aufregung um die sogenannten Halbstarkenkrawalle zwischen 1956 und 1958, als randalierende Jugendliche Konzert- und Kinosäle zerlegten und sich Straßenkämpfe mit der Polizei lieferten, war erneut Anlass, gegen die »Ami-Kultur« vorzugehen.
Doch gerade diese Schlacht ging besonders gründlich verloren. Denn die Kultur des Westens erwies sich als unteilbar: Wer zur »freien Welt« gehören wollte, konnte Rockmusik nicht verbieten. Hinzu kam, dass sich mit dem Wohlstand und den damit verbundenen sozialen Veränderungen die Rollenzuschreibungen der Geschlechter wandelten. Teilzeitarbeit avancierte seit Mitte der Sechziger zum neuen typisch weiblichen Erwerbsmodell, wozu die fortschreitende Technisierung des Haushalts ebenfalls beitrug. Neue Lebensentwürfe entstanden und veränderten das Geschlechterverhältnis.
In der Adenauerzeit indes hatte sich gezeigt, dass ein freiheitlicher Staat die Demokratisierung der Geschlechterordnung nicht automatisch vorantreibt, ja ihrer nicht einmal bedarf. Geschlechtsspezifische Ungleichheit erwies sich als erstaunlich kompatibel mit den Normen des liberalen Verfassungsstaates, die bürgerliche Gesellschaft selbst als gewohnt indolent. Es bedurfte jedenfalls langer Kämpfe und Umwälzungen, bis ein solches Bild wie am 27. September 2009 möglich wurde: eine CDU-Kanzlerin im Hosenanzug und ein schwuler Mann von der FDP als ihr designierter Vize, der seinem Freund nach dem Wahlsieg in die Arme sinkt. 50 Jahre zuvor hätte dieser Anblick die Parteigenossen nach dem Arzt rufen lassen – und nach dem Staatsanwalt.
Die Autorin ist Historikerin an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und hat zuletzt über die Gesellschaftsgeschichte der »sexuellen Revolution« gearbeitet