Impotenz als Chance
Ich hatte einige Begegnungen, deren Qualität sich durch den entspannten und entschleunigten Umgang der Männer mit Ihrer Errektionskraft besonders zeigte.
Deshalb stimme ich auch dem bei Connection.de gefundenen Artikel voll zu.
LG, Odette
Eintauchen ins selige Nichtstun
Über Sex liest man viel, aber über Impotenz? Spricht und schreibt man lieber nicht. Dabei birgt dieses gemiedene Thema ein großes Potenzial an – Selbsterkenntnis sowieso, aber auch an Verfeinerung in der Begegnung zwischen den Geschlechtern. Denn wenn der Körper sagt »Ich will nicht«, hat er was zu sagen. Roger Balmer, Leiter der Liebesakademie im ZEGG, plädiert für eine entspanntes Verhältnis zur Impotenz und sieht darin eine große Chance, ins selige Nichtstun (Wu Wei) einzutauchen. Aus der Stille dieses Nichtstuns heraus kann sich eine ganz neue, erfüllendere Dimension des erotischen Kontaktes ergeben
Vor etwa 30 Jahren war die Geburtsstunde von Viagra, dem Superpotenzmittel, mit dem geschätzte acht Millionen impotente deutsche Männer wieder in den Reigen der Männlichkeit aufgenommen werden konnten – und das sinnigerweise als Abfallprodukt der Herzschwächeforschung das Licht der Welt erblickte. Wer heute in sein E-Mail-Fach schaut, wird feststellen, dass Angebot und Nachfrage unvermindert boomen.
Impotenz in der üblichen Sicht der Spamversender heißt: »Er« steht nicht. Bestenfalls lümmelt »er« halbsteif vor sich hin, kippt aber einfach zu schnell um.
Eigentlich könnte es aber ganz anders sein. Zumindest laut Harold Robbins, mit 750 Millionen verkauften Büchern einer der meistgelesenen Autoren und sozusagen einer der größten Sexualerzieher und Imagemaker der letzten 50 Jahre:
Löwe im Käfig
»Ihre Finger öffneten sanft seinen Hosenschlitz und er sprang ihr wie ein wütender Löwe aus seinem Käfig entgegen. Sie streifte seine Vorhaut behutsam zurück, legte eine rote, zornige Eichel bloß, nahm ihn in beide Hände, eine Hand über der anderen, als ob sie einen Baseballschläger halte. Nackt ähnelte er einem Tier noch mehr als zuvor. Schulter und Bauch waren mit Haaren bedeckt, aus denen die gewaltige Erektion hervorsprang. Sie verlor fast die Besinnung, als sie an ihm herunterblickte.«
Soweit Harold Robbins, soweit zur männlichen Messlatte des Kontaktes zwischen zwei Menschen in der sexuellen Begegnung. (Hier will ich dem werten Leser nicht einen Einschub einer Freundin vorenthalten: Sie findet die obige Stelle erregend, ein bisschen dick aufgetragen, aber erregend, und so was habe sie auch schon erlebt … hmm.)
Jetzt aber erst einmal ein etwas anderer Blick auf die Potenzfrage. Ich beschäftige mich seit 25 Jahren intensiv mit den Fragen, die in Liebe und Sex zutage treten. Dabei beobachte ich: Je mehr ich mich als Mann entwickle und je offener mein Herz für die Frauen wird, desto weniger kann und will ich mich auf althergebrachte Potenzvorstellungen zurückziehen. Desto mehr komme ich in der sexuellen Begegnung auch in Bereiche, die man landläufig Impotenz nennt – wo der Schwanz weicher bleibt als gewohnt, halbsteif eben; wo »ganz tote Hose« herrscht; oder wo »er« manchmal einfach nur weniger kraftvoll und leidenschaftlich auftritt als bekannt.
Wartung einer Maschine?
Was nun, oh Mann? Zur ersten Orientierung in heikler Lage ein Zitat von Bernie Zilbergeld, einem US-Sexualtherapeuten, im Geburtsjahr von Viagra geschrieben:
»Anstatt Sex als eine Möglichkeit anzusehen, die zwei Menschen näher zusammenbringt und Spaß macht, und uns zu fragen, ob wir es genossen haben und menschliche Wärme verspürt haben, betrachten wir Sex als Arbeit und fragen, wie steif das Glied war, wie lange die Erektion dauerte und wie viele Orgasmen sie hatte. Wenn Probleme auftauchen, suchen wir nach technischen Hilfsmitteln und Ratschlägen, die uns bei der Lösung helfen sollen, genauso wie wir Handbücher zur Autopflege oder zur Wartung anderer Maschinen lesen.«
Vor diesem Hintergrund eröffnet sich ein überraschender Blick auf die Potenzfrage: Die so genannte Impotenz ist anders betrachtet ein Heilungsvorgang und eine Schutzreaktion der männlichen Seele, die sich nicht mit der Phantasiewelt und dem Leistungsstress ihres Inhabers zuschütten lassen will.
Die Kunst des Nicht-Tuns
Wirklich in Kontakt zu gehen mit einer Frau, jenseits von Aggressions- und Abrackerbildern, bedarf einer Öffnung des männlichen Herzens. Dazu wiederum ist es notwendig, zuvor unsere »Herzschwäche« zu fühlen. Wirklicher Kontakt verlangt den Ausstieg aus dem Leistungsdenken und aus der wohlbekannten Orientierung an kurzfristiger Befriedigung. Denn eine ausgeprägte Zielorientiertheit ist oft gleichbedeutend mit der Unfähigkeit, sich auf die Gegenwart eines Kontaktes zu konzentrieren, also die sich ausbreitende sexuelle Energie in Ruhe zu genießen und alleine ihren Job machen zu lassen. Letzteres wäre die Kunst des »Nicht-Tuns« oder des »Von-selbst« im Sex. Dazu noch einmal Zilbergeld:
»Der Gedanke, dass Sex gemächlich vor sich gehen kann, mit Pausen zum Ausruhen, mit Reden und Lachen, ist vielen Männern fremd. Einige von uns Männern meinen, dass an einem gemächlichen Tempo etwas Grundfalsches sei, da sie damit fehlende Leidenschaft und Manneskraft assoziieren.«
Solch eine Hinwendung zur Langsamkeit und zum vertieften Genuss ist nicht immer einfach – vor allem, wenn man so im Stress steckt, wie wir oft im Stress oder im Stau stecken als Männer. Aber sie ist trotzdem notwendig, wenn wir aus unserer Isolation heraustreten wollen. Das Wichtigste ist eigentlich, dass wir mal wieder überhaupt etwas in unseren Zellen spüren als Mann; auch wenn die Energie noch gar nicht bis hinunter in den Schwanz geht. Die sexuelle Energie zwischen zwei Menschen reicht so weit, wie sie reicht, und die Verbindung zu einer Frau ist intensiver und die Erfüllung für einen selber bedeutend größer, wenn man diese subtile Wahrnehmung des Kontaktes übt, als wenn wir mechanischen Sex mit hartem Schwanz betreiben. Impotenz wird auf diese Weise zu einer Nahtstelle für den Wiedereintritt in den Kontakt zur Frau – und zu uns selbst.
Realer Kontakt
Viele Männer sind voll mit einer sexuellen Bilderwelt, die wir heute mit einem Klick im Internet öffnen können oder in jedem Kiosk finden. Diese kann einen gewaltig unter Strom setzen – für mich ist z.B. die Vorstellung erregend, dass eine Frau Lust hat, mit mehreren Männern gleichzeitig sexuell zu sein. Solche Bilder können einen starken, authentischen Kern enthalten, der durchaus das Potenzial zu wirklicher Begegnung in sich trägt – wie auch anfangs die Geschichte von Harold Robbins' »wütendem Löwen«, die neben der grotesken Überzeichnung die Magie einer sexuellen Starkstrombegegnung streift. Aber um diesen »geilen« Kern herum gibt es eine Menge zartes Fruchtfleisch, das liebkost und genossen werden möchte.
Der Schwanz füllt sich dann durch den realen Kontakt mit der Frau, und nicht mehr durch eine Phantasiewelt, die sich der Mann herbeizaubert. Im realen Kontakt werden die Phantasien, die viele Männer so lieben, sich verwandeln – und doch in ihrer Essenz immer wieder auf wunderschöne und erfüllende Art und Weise einlösen. Dann können wir die Erfahrung machen, dass es einen Sex gibt, der aus der gleichen Quelle kommt, die Vincent van Gogh seinen Pinsel führen ließ, als er seine Meisterwerke erschuf.
Auf dem Weg dahin sollten sich die Männer, anstatt zu überlegen, wie sie sich Viagra denn wohl rezeptfrei besorgen können, ein paar andere Fragen stellen.
(Um niemandem ungerechtfertigt auf dem Schwanz – ich meine Schlips – zu stehen: Es mag medizinische Indikationen geben, in denen Viagra ein Geschenk ist – ich spreche und schreibe hier von einer verrückten männlichen Geisteshaltung.)
Innere Berührung
Zum Beispiel: Wie entsteht eigentlich innere Berührung in meinem sexuellen Kontakt? Oder: Wann nährt mich der Sex länger als über den Bettrand hinaus? Oder, wenn man sich an seine eigenen sexuellen »Highlights« erinnert: Was ist das für ein Gefühl, wenn der Kontakt für Stunden, vielleicht einen ganzen Tag lang in den eigenen Zellen nachschwingt – was hat man richtig gemacht, was hat man weggelassen?
Wie verbinden wir unsere archaische, wilde sexuelle Kraft nicht mehr mit der Quelle von Aggression, sondern mit der Quelle der Sinnlichkeit? (Und diese wilde Kraft gehört zu uns, es geht nicht darum, sie aufzugeben!)
Was brauchen wir, um die Spannung des Nichts-Tuns im Bett auszuhalten? Wie gelangen wir zu genügend innerer Kraft und Präsenz, um zu fühlen, wann tief aus uns heraus ein Handlungsimpuls aufsteigen will?
Die Tatsache, dass so viele Männer »impotent« sind, ist im Grunde eine Entwicklungschance für unsere mechanistische, den Quellen des Lebens entfremdete Kultur. Es ist eine Chance, die Von-Selbst-Kräfte in einem Zentralbereich unseres Lebens, der Sexualität, neu zu verstehen, mit ihnen zu leben und sie auf alle Bereiche unseres Lebens zu übertragen. Wenn wir Männer dieses Von-Selbst-Prinzip verstehen, wird uns das in eine neue Tiefe des Lebens bringen. Dann werden auch die Schwänze gerne wieder steif werden bei den anfangs erwähnten 8 Millionen deutschen Männern (oder eben weiterhin, aber jetzt genüsslich, halbsteif vor sich hinlümmeln).
Und die heutzutage allgegenwärtige Verbreitung von Viagra wird wahrscheinlich in der Zukunft ähnlich belächelt werden, wie wir heute die Methode des Aderlasses im Mittelalter belächeln.