Natürlich.
Sicher gibt es das Gute und das Böse noch. Ohne diese beiden essentiellen Pole würde sich die Welt doch gar nicht drehen.
Was sich gewandelt hat im Zuge der Aufklärung der Menschheit, ist einzig die "Herkunft" des Guten und des Bösen.
Heute ist nicht mehr Gott das Gute und alles was böse ist, ist des Teufels. Mit solchen simplen Polarisierungen hat man im Zuge der Christianisierung der Menschheit ganze Generationen unter Kontrolle gehalten. Die Kirche bestimmte, was gut und was böse war, die Kirche erdachte auch die Strafen und lebte, sowohl ideel als auch finanziell, von der Angst der Menschen.
Ihr wisst was ich meine. Den ganzen Kram kann man langsam aber sicher - zumindest in weiten Teilen dieser Welt - zu den Akten legen. Religion und Aberglaube bestimmen nicht länger unsere Sichtweise von gut und böse, von moralisch oder unmoralisch, von gesellschaftlich akzeptabel oder nicht akzeptabel.
Was aber ist an deren Stelle getreten?
Ich bin der Meinung, dass die meisten Menschen sich heute ihre Moral und ihr Gefühl für gut und böse selbst basteln. Es ist eine Mischung aus Dingen, die uns unser Elternhaus vorlebt und aus eigenen Erfahrungen und einem selbst gezimmerten Weltbild.
Böse ist, darin sind sich heute noch viele Menschen einig, das, was nur den eigenen Vorteil berücksichtigt und zwar unter der bewussten Inkaufnahme, dass andere dabei zu Schaden kommen.
Diesen Grundsatz gab es schon, bevor es das Christentum gab.
"Do as you please, as long as you harm no one." ist der Grundsatz vieler naturbezogener Religionen, heute ist er noch als oberster Glaubensgrundsatz beispielsweise bei den Wicca zu finden, einer Religion die sich auf viele alte Glaubensrichtungen bezieht und die heute noch - vor allem in Großbritannien und in den USA - viele Anhänger hat.
Ich glaube, dass dieser Grundsatz im Grunde die Essenz von gut und böse sehr gut auf einen Punkt bringt. Gut ist, wer auch die Bedürfnisse anderer sieht und in seinem Tun berücksichtigt. Böse ist, wer das nicht tut.
Dinge wie lügen, betrügen, manipulieren, verletzen und gar töten gelten noch immer als klassisch böse, wohingegen Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit, Einfühlungsvermögen, Ehrlichkeit und Rücksichtnahme als klassisch gut zu bewerten sind.
Das entscheidet heute nicht mehr Gott und nicht seine Tribunale, sondern die Gesellschaft selbst formt und bewertet seine Mitglieder. Gut ist, wer sich in einer Gesellschaft bewegt auf eine Weise, die alle zugute kommt. Böse ist, wer die Gesellschaft ausschließlich zu seinem Vorteil ausnutzt und dabei anderen schadet.
Geben und nehmen, gut und böse, schwarz und weiß... das wird es immer geben. Wie zwei Seiten einer Wippe auf dem Kinderspielplatz, wie zwei Schalen einer Waage. Beide Seiten sind nötig, um ein Gleichgewicht herzustellen.
Viele Menschen finden es heute schwierig, sich da einzuordnen und sich und ihr Handeln zu positionieren. Und manchmal ist das ja auch nicht einfach. Früher hat uns unser Beichtvater gesagt, was man tun darf und was nicht. Heute wissen wir, dass man vom Wichsen und von unkeuschen Gedanken nicht blind wird und nicht in die Hölle kommt weil die Hölle ein Ort ist, der nur eine symbolische Bedeutung hat.
Die Hölle ist etwas, das in uns wohnt. Jeder macht sich seine Hölle selbst, indem er sich selbst ständig hinterfragt und versucht, einzuordnen, wie sein Handeln und seine Begehrlichkeiten zu bewerten sind.
Realistischerweise sind doch die meisten Menschen heute in einer Grauzone unterwegs. Wer von uns ist schon ein Gutmensch, dessen weiße Weste schon aus 20 Metern Entfernung jeden blendet? Kaum einer. Wir alle wägen ab zwischen dem, was uns unsere Lust und unsere Gier nach mehr von allem einflüstert und dem, was davon umzusetzen ist, ohne sich wie ein Arschloch aufzuführen.
Es gibt also noch gut und böse. Und es gibt jede Menge Kompromisse dazwischen. Ich glaube, die meisten Menschen sind ein bisschen gut und ein bisschen böse. Ich selbst habe schon gelogen, betrogen, gestohlen und mich im altmodischen Sinne unmoralisch verhalten. Alles in allem folge ich aber bei meinem Handeln einer inneren Grenze. Ich möchte mich selbst immer im Spiegel ansehen können, ohne dass mir davon schlecht wird. Ich trage also meinen moralischen Kompass in mir.
Und auf diese Weise versuche ich auch, mein Kind zu erziehen. Ich trage da eine große Verantwortung, denn es liegt an mir, ob mein Kind auch einmal dieses Gespür haben wird für Grenzen. Ob es einmal seiner selbst bewusst genug sein wird, um sich im entscheidenen Moment auf die richtige Seite zu wenden. Nicht zu verletzen, nicht über Leichen zu steigen, nicht egoistisch nur die eigenen Taschen zu füllen auf Kosten anderer... sondern immer abzuwägen ob sein Tun gerecht ist.
So. Ich glaube, das reicht erst mal an Gedanken dazu.