Weibliche Lust
Gegen die Bandbreite dessen, was Frauen erregen kann, hat das, was Männer anturnt, auf einem Schnürsenkel Platz. Dieser Satz ist ja wohl DER Hammer und deshalb stelle ich mal hier den Ursprungsartikel ein...
LG. Odette
Weltwoche.ch 14/2009
Landkarte der Lust
Jahrzehntelang ging die Forschung davon aus, dass die Erregung bei den Frauen gleich funktioniert wie bei den Männern: ziemlich simpel. Jetzt finden Sexualwissenschaftlerinnen heraus: Dem ist nicht so. Frauen sind, auch was ihre Lust betrifft, flexibler als Männer.
Was auf Deutsch «Faustregeln» sind, heisst auf Englisch «Daumenregeln». Das muss vorausgeschickt werden, denn die «Daumenregel», von der hier die Rede ist, macht für den weiblichen Orgasmus einen beträchtlichen Unterschied. Sie besagt, dass es für heterosexuelle Frauen schwierig bis körperlich unmöglich ist, beim Geschlechtsverkehr ohne zusätzliche Stimulierung der Klitoris zum Orgasmus zu kommen, wenn diese von der Vagina weiter entfernt ist als eine Daumenbreite, also rund zweieinhalb Zentimeter. Bei etwa drei Viertel der Frauen ist der Abstand einiges grösser. Er kann bis zu zwölf Zentimeter betragen.
Kim Wallen, Professor für Vehaltensneuroendokrinologie an der Emory University, Atlanta, war nicht der Erste, der einen Zusammenhang zwischen der körperlichen Distanz von Vagina und Klitoris und der weiblichen Orgasmusfähigkeit bei der Penetration vermutete. Das hatte 1924 in einer medizinischen Fachzeitschrift bereits Prinzessin Marie Bona-parte, Urenkelin von Napoleons Bruder, be-hauptet, die auf der Suche nach Erklärungen für den ihr versagten Orgasmus begonnen hatte, den Unterleib von Frauen zu vermessen. Sie unterschied zwischen glücklichen paraclitoridiennes und weniger gesegneten téléclitoridiennes, Frauen mit entfernter Klitoris, und schreckte auch nicht davor zurück, ihre eigene Klitoris versetzen zu lassen. Glücklicher wurde ihr Liebesleben dadurch nicht, die Mikrochirurgie steckte noch in den Anfängen. Ihr Bericht ging vergessen. Erst dank Kim Wallens Studien ist seine Richtigkeit heute zu belegen.
Die meisten Frauen, bei denen die Distanz zwischen Klitoris und Vagina eher der Faust- als der Daumenregel entspricht, empfinden sich alles andere als lustarm. Aber wenn sich ein Mann dazulegt, dem im Bett nichts als Penetration einfällt, bleibt der Höhepunkt ein ferner Wunsch, weil die Klitoris vom Ort des erregenden Geschehens zu weit weg ist.
Ein Handspiegel auf dem Boden, ein ungestörter Moment, und die Frau weiss, was Sache ist. Und warum es allenfalls bisher mit dem Höhepunkt beim Sex mit Männern nicht klappte. Für viele Frauen ist die Erkenntnis so befreiend wie für Männer die Erfahrung, dass Viagra eine harmlose, aber sehr verunsichern-de Durchblutungsstörung beheben kann, die ihnen die Erektion verunmöglichte. Dem vergleichbar, ist es meist nicht die verklemmte Frauenseele, die der weiblichen Lust am Sex zu zweit Grenzen setzt, sondern ganz simpel die weibliche Anatomie.
So weit, so klar, wenn man es einmal weiss. Zum Verzweifeln kompliziert wird die Frage nach der weiblichen Lust, wenn man nicht dort ansetzt, wo sich Frau und Mann bereits einig sind, miteinander ins Bett zu steigen, sondern dort, wo sich die Frau solo in der Welt umsieht. Worauf reagiert sie? Was erregt sie? Was lässt sie kalt?
Fast alle lügen
Die Forschung hat die Frage bis vor wenigen Jahren ignoriert. Denn mit Fragen allein war nicht weiterzukommen. Beim Thema «Sex» lügen fast alle, beim Thema «sexuelle Fantasien» restlos alle. Forscher müssen also ihre Testpersonen an den Geschlechtsorganen verkabeln, um Durchblutung und Sekretion zu messen, müssen ihren Puls beim Verkehr verfolgen. Und sie müssen ihnen beim Sex zusehen. Alfred Kinsey, der berühmteste aller Sexualwissenschaftler, machte seine ersten Aufnahmen kopulierender Paare in den vierziger Jahren heimlich im Estrich seines Instituts, um nicht diffamiert zu werden.
«Wir Wissenschaftler sind nach wie vor von Angst beherrscht», sagten noch Ende der fünfziger Jahre William Masters und Virginia Johnson, die wie Kinsey heute als bahnbrechende Sexualforscher gelten, «Angst vor der öffentlichen Meinung, der religiösen Intoleranz, dem politischen Druck.» Sowohl Kinsey wie Masters und Johnson verfassten Werke über die körperlichen Vorgänge beim Geschlechtsverkehr, die heute als Klassiker gelten. Zur Lust, die den Verkehr erst möglich macht, stellten sie keine Forschungen an. Es war nicht nur die Angst der Wissenschaftler, als sexbesessene Voyeure beschimpft zu werden. Aus männlicher Sicht gibt es zum Thema «Lust» tatsächlich kaum offene Fragen. Den Mann erregt, simpel und einleuchtend, wen oder was er begehrt. Jennifer Lopez’ Hintern, die Frau im Tram mit dem grossen Ausschnitt, den jungen Barkeeper mit den muskulösen Armen. Und wie bei der Hirnforschung herrschte auch in der traditionell von Männern dominierten Sexualforschung jahrzehntelang die Meinung vor, bei Frauen werde es sich wohl nicht anders verhalten.
Die Wende brachte ausgerechnet Viagra. Der durchschlagende Erfolg der blauen Pille, die 1998 auf den Markt kam, löste in der Pharmaindustrie eine intensive – und bisher weitgehend vergebliche – Forschung nach einem ähnlich zuverlässigen Mittel zur weiblichen Luststeigerung aus. Auf die wissenschaftliche Erkenntnis, dass bessere Durchblutung der Geschlechtsorgane allein der weiblichen Lust selten auf die Sprünge hilft, folgte die Frage: Warum nicht? Und wenn nicht, wo findet sich ein besserer Ansatz? Sie wurde und wird inzwischen vor allem von Wissenschaftlerinnen gestellt – rund ein Viertel der Sexualforscher sind inzwischen weiblich.
Das Einzige, worin sie sich gegenwärtig einig sind, ist, dass weibliche Lust grundsätzlich anders funktioniert als männliche: Gegen die Bandbreite dessen, was Frauen erregen kann, hat das, was Männer anturnt, auf einem Schnürsenkel Platz. Und in eklatantem Gegensatz zu Männern empfinden Frauen, auch wenn ihre Körper den Wissenschaftlern sexuelle Erregung signalisieren, subjektiv mitunter nicht nur keine Lust, sondern geradezu gähnende Langeweile.
Genitale Messungen
In ihrem Buch «Bonk» (Vögeln), einem erfreulich unterhaltenden Überblick über die Geschichte der Sexualforschung, berichtet die Wissenschaftsjournalistin Mary Roach über ein Experiment der kanadischen Forscherin Meredith Chivers, das inzwischen weltweit Aufsehen erregte. Chivers zeigte homo- und heterosexuellen Männern und Frauen Ausschnitte homo- und heterosexueller Sexszenen, ausserdem einen masturbierenden Mann, eine masturbierende Frau, einen muskulösen nackten Mann am Strand, eine nackte Frau bei der Gymnastik – und kopulierende Bonobos, eine Schimpansenart. Die Forscherin vermass die genitalen Blutdruckschwankungen sämtlicher Betrachter bei den einzelnen Szenen, bat die Testpersonen aber gleichzeitig auch um ihre subjektive Einschätzung, wie stark sie sich erregt fühlten.
Die Testresultate der Männer bestätigten die traditionellen Lustvorstellungen der Sexualforschung: Heteros wurden durch Sex von Hetero-Paaren stimuliert, durch lesbischen Sex, durch die turnende Nackte und die masturbierende Frau, Schwule durch homosexuellen Sex. Ihre genitalen Blutdruckschwankungen stimmten mit ihrer subjektiven Einschätzung dessen, was sie stimuliert hatte, lückenlos überein. Körper und Kopf des Mannes waren sich einig.
Der Blutdruck der Frauen hingegen, heterosexuell wie lesbisch, stieg an, ob der Film Männer mit Männern, mit Frauen oder Frauen mit Frauen zeigte. Er stieg beträchtlich bei der nackten Turnerin, etwas weniger bei den Bonobos und am wenigsten beim schlendern-den Muskelmann am Strand, dessen Penis in Ruhestellung baumelte. Aber was die genitalen Messgeräte aufgezeichnet hatten, wurde in den weiblichen Köpfen nur zum Teil registriert: Heterosexuelle Frauen hatten sich durch lesbischen und schwulen Sex nicht annähernd so stimuliert gefühlt, wie dies ihr Blutdruck signalisiert hatte.
Und bei den Bonobos, sagten alle Frauen übereinstimmend, hätten sie kaum Erregung verspürt. In der Wahrnehmung der eigenen Lust schienen Kopf und Körper der Frauen in beträchtlicher Häufigkeit unabhängig voneinander zu reagieren.
Offenbar, vermutet Chivers, liegen den männlichen und weiblichen Erregungssystemen völlig unterschiedliche Prozesse zugrunde. Die Erklärung der Wissenschaftlerin für die weibliche Trennung zwischen körperlicher und subjektiv empfundener Lust ist vorsichtig. «Ich fühle mich wie ein Pionier am Rand eines riesigen Dschungels», sagte die 36-Jährige der New York Times, «es führt ein Weg hinein, aber er ist nicht sehr klar sichtbar.» Chivers vermutet, dass rein physiologische Erregung wenig über weibliche Wünsche verrät und Frauen Lust über den Kopf definieren: «Ansonsten müsste ich glauben, dass Frauen Sex mit Bonobos haben möchten.»
Ein Hauptargument für ihre Vermutung ist die Aussage zahlreicher Vergewaltigungsopfer, dass sie trotz Ekel und panischer Angst beim gewaltsamen Verkehr sexuell erregt gewesen, in manchen Fällen sogar zum Orgasmus gekommen seien. Gemäss Chivers’ Evolutions-Hypothese hat der weibliche Körper gelernt, auf die Wahrnehmung möglicher Sexualkontakte – auch gewalttätiger – so zu reagieren, dass er vor Verletzungen geschützt bleibt. Er produziert trotz gänzlichem Mangel an Lust eine vorsorgliche vaginale Feuchtigkeit.
«Der Orgasmus schlechthin»
Möglicherweise, sagt die Kanadierin, erkläre der Reflex auch die erstaunliche Reaktion ihrer weiblichen Testpersonen auf die erigierten Glieder der Bonobos und ihre körperliche Ungerührtheit beim Anblick des nackten und sichtlich nicht erregten Mannes am Strand. Aber sie erwägt auch eine zusätzliche Hypothese, der sie unbedingt eine künftige Studie widmen will: Auch sehr sexuelle Frauen haben nach ihren Beobachtungen im Gegensatz zu Männern eine eher reagierende als aggressive Sexualität: «Begehrt zu werden, ist für die weibliche Sexualität ein unglaublich mächtiger Faktor.»
Für Marta Meana, Psychologieprofessorin an der Universität von Nevada, ist der weibliche Wunsch nach männlichem Begehren «der Orgasmus schlechthin». Meana behandelte jahrelang Patientinnen, die beim Geschlechtsverkehr grosse Schmerzen hatten, und entdeckte, dass sich die Schmerzen verringerten, sobald die Frauen mehr Lust auf Sex verspürten. Es hatte wenig mit verbesserten Liebesbeziehungen zu tun. Weibliches Begehren, sagt Meana, werde entgegen gängiger Überzeugung nicht von Beziehungsfaktoren wie Zärtlichkeit oder Rücksicht bestimmt, die für Frauen im Gegensatz zu Männern nach weitverbreiteter Überzeugung angeblich so entscheidend seien. «In Wahrheit», sagt die Wissenschaftlerin, «ist die weibliche Lust narzisstisch, nicht beziehungsorientiert.» Studienergebnisse zeigten, dass erotische Frauenfantasien viel weniger als die der Männer darum kreisen, den Partner zu befriedigen, als selber befriedigt zu werden. In den Köpfen der Frauen ist die eigene Befriedigung der zentrale Punkt. «Wenn es um Lust geht», vermutet Meana, «sind Frauen möglicherweise viel weniger beziehungsabhängig als Männer.»
Mit Meredith Chivers teilt Meana die Überzeugung, dass die weibliche Sexualität geteilt sei, aber ihre Interpretation der Zweiteilung ist eine andere. Einerseits sei da die schiere Lust, andrerseits das jahrtausendealte Interesse an einer langlebigen, verlässlichen, Sicherheit bietenden Beziehung.
«Falsch ist der Gedanke, dass Beziehungen die primäre Quelle weiblichen Begehrens sind, nur weil sich Frauen für Beziehungen entscheiden. Was Frauen wollen», sagt die Professorin, «ist ein echtes Dilemma. Sie wollen an die Wand geschleudert werden, ohne gefährdet zu sein. Sie wollen einen fürsorglichen Höhlenmenschen.» Das ist nicht, was Ehemänner hören möchten. Ehefrauen auch nicht. Denn Männer werfen nach ein paar Ehejah-ren beim Heimkommen nur noch selten ihre Kleider schon unter der Haustür ab, weil die Lust sie übermannt. Was für ihre Frauen der Beweis ist, dass sie nicht mehr begehrt, sondern nur noch beschlafen werden, weil sie nun einmal verheiratet sind. Ein Jahrtausend-Missverständnis.
Dass der Sexualtrieb des Mannes stärker ist als derjenige der Frau, ist durch zahlreiche Studien belegt. Testosteron lässt den Blutdruck ungleich häufiger ansteigen als Östrogen. Marta Meana formulierte die Frauensicht im Gespräch mit der New York Times so: «Vielleicht mag ich Kuchen nicht ganz so oft wie du, aber wenn ich Kuchen esse, sollte er bitte vom Feinsten sein.» Und vom Feinsten ist Sex für heterosexuelle Frauen nach Meanas Erkenntnissen, wenn ein Mann ihnen zu verstehen gibt, dass sie sein absolut einziges Lustobjekt sind. Nicht mit süssen Worten, sondern mit einer rückhaltlosen Begierde, auf die Frauen ihrerseits mit erregter Hingabe reagieren.
Fantasie von der Vergewaltigung
Nach einer im letzten Jahr in der Fachzeitschrift The Journal of Sex Research veröffent- lichten Auswertung mehrerer Studien haben zwischen einem Drittel und der Hälfte der Frauen Vergewaltigungsfantasien, die sie erregen, häufig beim Geschlechtsverkehr. Sie hasse das Wort Vergewaltigungsfantasie, sagt Marta Meana, Vergewaltigung bedeute Kontrollverlust, Fantasie hingegen absolute Kontrolle, und der Unterschied zwischen der Realität und dem Film im Kopf sei riesig. Es handle sich um Fantasien, so sehr gewollt zu werden, dass man sich der Aggression unterwerfe. Mit Wörtern wie Aggression und Unterwerfung hadert die Psychologin allerdings: «Wir müssen neue Bezeichnungen finden für eine Fantasie, in der die Frau sich letztlich willentlich dem Mann ergibt.»
Interessanterweise ist eine der sexuellen Fantasien, die Frauen sexuell völlig kaltlassen, aktiver Sadismus. Während Masochismus, erlebt oder fantasiert, vielen Frauen vertraut ist, geniessen Dominas bei SM-Praktiken zwar ihre Überlegenheit, aber soweit bekannt, erregt es sie sexuell so gut wie nie. Auch Fetischismus, schreibt Daniel Bergner in seinem Buch «The Other Side of Desire», sei unter Frauen drastisch weniger verbreitet als unter Männern. Was immer die weibliche Lust entfacht: Wimmernde Männer im Latexanzug auszupeitschen, gehört nicht dazu.
Völlig anderer Meinung in Fragen weiblicher Lust als ihre beiden Kolleginnen Chivers und Meana ist Lisa Diamond, Co-Professorin für Psychologie und Genderstudies an der Universität von Utah. Ihr im letzten Jahr erschienenes und in den USA stark beachtetes Buch «Sexual Fluidity» (fliessende Sexualität) beginnt mit den Beispielen zweier prominenter Schauspielerinnen: Anne Heche, die sich 1997 in den offen lesbischen Comedy-Star Ellen DeGeneres verliebte und sie zwei Jahre später verliess, um einen Mann zu heiraten. Und Cynthia Nixon («Sex and the City»), die sich 2004 wegen einer Frau von ihrem langjährigen Lebenspartner trennte. «Was geht hier vor?», fragt Lisa Diamond. «Gingen diese Frauen zuvor nur durch eine Phase, oder gehen sie jetzt durch eine Phase?»
Diamonds Buch beruht auf einer Studie an hundert Frauen, die sich zu Beginn der Studie vor über zehn Jahren entweder als lesbisch oder bisexuell bezeichneten oder sich weigerten, ihre sexuelle Orientierung festzulegen. In den zehn Jahren, in denen die Forscherin sie befragte, wechselten ihre Beziehungen fliessend zwischen männlichen und weiblichen Partnern. «Ich verliebe mich in Menschen, nicht in Geschlechter», war der Satz, mit dem die meisten der Frauen ihre wechselnden Vorlieben zu erklären versuchten.
Lisa Diamond folgert daraus, dass zumindest für einen Teil der Frauen, wenn nicht für alle, Liebe und Lust nicht primär auf ein Geschlecht gerichtet sind, sondern durch Intimität und Vertrauen entstehen, ob mit einer Frau oder einem Mann. Weibliches Verlangen bezeichnet sie als dehnbar: «Fliessende weibliche Sexualität ist kein Glückstreffer», behauptet Diamond. Von den hundert Frauen hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Mehrheit nicht irgendwann für ein Geschlecht entschieden, sondern für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem eigenen, dehnbaren Verlangen.
Fehlende Theorien
Die Forscherin stellt nicht in Frage, dass Frauen genau wie Männer mit einer Vorliebe für das eine oder andere Geschlecht geboren werden. Aber nicht immer ist nach ihren Beobachtungen die angeborene Vorliebe stärker als die intensive Intimität von Begegnungen: «Fliessende Sexualität», sagt Diamond, «bedeutet nicht, dass alle Frauen bisexuell sind. Der Grad an fliessender Sexualität ist unterschiedlich. Man stellt es sich am besten als zusätzliche Komponente ihrer Sexualität vor, die neben ihrer Hetero- oder Homosexualität ihr Verhalten und ihre Fantasien beeinflusst. Das heisst nicht, dass ihr Verlangen sich endlos verändert, sondern nur, dass manchen Frauen eine grössere Auswahl erotischer Gefühle und Erfahrungen offensteht, als man man auf Grund ihrer sexuellen Orientierung annehmen würde.»
Die Psychologin Rebecca Shuster beobachtete, «dass Frauen sich oft in jemanden verlieben, dessen Geschlecht für sie unerwartet ist, und die Heftigkeit dieser Beziehung bringt sie dazu, ihre Identität neu zu überdenken.» Solche Erfahrungen enthüllen nach Shuster eine Breite sexueller und emotionaler Anziehung und Nähe von unendlicher Variabilität und und stellen zwangslaufig die Vorstellung einer bereits bei der Geburt festgelegten sexuellen Orientierung in Frage.
Niemand habe gegenwärtig eine umfassende Theorie zur weiblichen Lust, sagt Julia Heiman. Und die Direktorin des Kinsey-Instituts an der Universität von Indiana ist auch alles andere als sicher, dass es trotz Verkabelungen von Testpersonen, jahrelangen Interviews, pharmazeutischen Versuchen und medizinischer Erforschung des weiblichen Gehirns jemals so etwas wie eine Landkarte der weiblichen Lust geben wird.
«Blieb Freuds Frage fast ein Jahrhundert lang nicht deswegen unbeantwortet, weil sich die Wissenschaft nicht darum kümmerte», fragte die New York Times, «sondern weil sie nicht beantwortbar ist?»
Jahrzehntelang ging die Forschung davon aus, dass die Erregung bei den Frauen gleich funktioniert wie bei den Männern: ziemlich simpel. Jetzt finden Sexualwissenschaftlerinnen heraus: Dem ist nicht so. Frauen sind, auch was ihre Lust betrifft, flexibler als Männer.
Was auf Deutsch «Faustregeln» sind, heisst auf Englisch «Daumenregeln». Das muss vorausgeschickt werden, denn die «Daumenregel», von der hier die Rede ist, macht für den weiblichen Orgasmus einen beträchtlichen Unterschied. Sie besagt, dass es für heterosexuelle Frauen schwierig bis körperlich unmöglich ist, beim Geschlechtsverkehr ohne zusätzliche Stimulierung der Klitoris zum Orgasmus zu kommen, wenn diese von der Vagina weiter entfernt ist als eine Daumenbreite, also rund zweieinhalb Zentimeter. Bei etwa drei Viertel der Frauen ist der Abstand einiges grösser. Er kann bis zu zwölf Zentimeter betragen.
Kim Wallen, Professor für Vehaltensneuroendokrinologie an der Emory University, Atlanta, war nicht der Erste, der einen Zusammenhang zwischen der körperlichen Distanz von Vagina und Klitoris und der weiblichen Orgasmusfähigkeit bei der Penetration vermutete. Das hatte 1924 in einer medizinischen Fachzeitschrift bereits Prinzessin Marie Bona-parte, Urenkelin von Napoleons Bruder, be-hauptet, die auf der Suche nach Erklärungen für den ihr versagten Orgasmus begonnen hatte, den Unterleib von Frauen zu vermessen. Sie unterschied zwischen glücklichen paraclitoridiennes und weniger gesegneten téléclitoridiennes, Frauen mit entfernter Klitoris, und schreckte auch nicht davor zurück, ihre eigene Klitoris versetzen zu lassen. Glücklicher wurde ihr Liebesleben dadurch nicht, die Mikrochirurgie steckte noch in den Anfängen. Ihr Bericht ging vergessen. Erst dank Kim Wallens Studien ist seine Richtigkeit heute zu belegen.
Die meisten Frauen, bei denen die Distanz zwischen Klitoris und Vagina eher der Faust- als der Daumenregel entspricht, empfinden sich alles andere als lustarm. Aber wenn sich ein Mann dazulegt, dem im Bett nichts als Penetration einfällt, bleibt der Höhepunkt ein ferner Wunsch, weil die Klitoris vom Ort des erregenden Geschehens zu weit weg ist.
Ein Handspiegel auf dem Boden, ein ungestörter Moment, und die Frau weiss, was Sache ist. Und warum es allenfalls bisher mit dem Höhepunkt beim Sex mit Männern nicht klappte. Für viele Frauen ist die Erkenntnis so befreiend wie für Männer die Erfahrung, dass Viagra eine harmlose, aber sehr verunsichern-de Durchblutungsstörung beheben kann, die ihnen die Erektion verunmöglichte. Dem vergleichbar, ist es meist nicht die verklemmte Frauenseele, die der weiblichen Lust am Sex zu zweit Grenzen setzt, sondern ganz simpel die weibliche Anatomie.
So weit, so klar, wenn man es einmal weiss. Zum Verzweifeln kompliziert wird die Frage nach der weiblichen Lust, wenn man nicht dort ansetzt, wo sich Frau und Mann bereits einig sind, miteinander ins Bett zu steigen, sondern dort, wo sich die Frau solo in der Welt umsieht. Worauf reagiert sie? Was erregt sie? Was lässt sie kalt?
Fast alle lügen
Die Forschung hat die Frage bis vor wenigen Jahren ignoriert. Denn mit Fragen allein war nicht weiterzukommen. Beim Thema «Sex» lügen fast alle, beim Thema «sexuelle Fantasien» restlos alle. Forscher müssen also ihre Testpersonen an den Geschlechtsorganen verkabeln, um Durchblutung und Sekretion zu messen, müssen ihren Puls beim Verkehr verfolgen. Und sie müssen ihnen beim Sex zusehen. Alfred Kinsey, der berühmteste aller Sexualwissenschaftler, machte seine ersten Aufnahmen kopulierender Paare in den vierziger Jahren heimlich im Estrich seines Instituts, um nicht diffamiert zu werden.
«Wir Wissenschaftler sind nach wie vor von Angst beherrscht», sagten noch Ende der fünfziger Jahre William Masters und Virginia Johnson, die wie Kinsey heute als bahnbrechende Sexualforscher gelten, «Angst vor der öffentlichen Meinung, der religiösen Intoleranz, dem politischen Druck.» Sowohl Kinsey wie Masters und Johnson verfassten Werke über die körperlichen Vorgänge beim Geschlechtsverkehr, die heute als Klassiker gelten. Zur Lust, die den Verkehr erst möglich macht, stellten sie keine Forschungen an. Es war nicht nur die Angst der Wissenschaftler, als sexbesessene Voyeure beschimpft zu werden. Aus männlicher Sicht gibt es zum Thema «Lust» tatsächlich kaum offene Fragen. Den Mann erregt, simpel und einleuchtend, wen oder was er begehrt. Jennifer Lopez’ Hintern, die Frau im Tram mit dem grossen Ausschnitt, den jungen Barkeeper mit den muskulösen Armen. Und wie bei der Hirnforschung herrschte auch in der traditionell von Männern dominierten Sexualforschung jahrzehntelang die Meinung vor, bei Frauen werde es sich wohl nicht anders verhalten.
Die Wende brachte ausgerechnet Viagra. Der durchschlagende Erfolg der blauen Pille, die 1998 auf den Markt kam, löste in der Pharmaindustrie eine intensive – und bisher weitgehend vergebliche – Forschung nach einem ähnlich zuverlässigen Mittel zur weiblichen Luststeigerung aus. Auf die wissenschaftliche Erkenntnis, dass bessere Durchblutung der Geschlechtsorgane allein der weiblichen Lust selten auf die Sprünge hilft, folgte die Frage: Warum nicht? Und wenn nicht, wo findet sich ein besserer Ansatz? Sie wurde und wird inzwischen vor allem von Wissenschaftlerinnen gestellt – rund ein Viertel der Sexualforscher sind inzwischen weiblich.
Das Einzige, worin sie sich gegenwärtig einig sind, ist, dass weibliche Lust grundsätzlich anders funktioniert als männliche: Gegen die Bandbreite dessen, was Frauen erregen kann, hat das, was Männer anturnt, auf einem Schnürsenkel Platz. Und in eklatantem Gegensatz zu Männern empfinden Frauen, auch wenn ihre Körper den Wissenschaftlern sexuelle Erregung signalisieren, subjektiv mitunter nicht nur keine Lust, sondern geradezu gähnende Langeweile.
Genitale Messungen
In ihrem Buch «Bonk» (Vögeln), einem erfreulich unterhaltenden Überblick über die Geschichte der Sexualforschung, berichtet die Wissenschaftsjournalistin Mary Roach über ein Experiment der kanadischen Forscherin Meredith Chivers, das inzwischen weltweit Aufsehen erregte. Chivers zeigte homo- und heterosexuellen Männern und Frauen Ausschnitte homo- und heterosexueller Sexszenen, ausserdem einen masturbierenden Mann, eine masturbierende Frau, einen muskulösen nackten Mann am Strand, eine nackte Frau bei der Gymnastik – und kopulierende Bonobos, eine Schimpansenart. Die Forscherin vermass die genitalen Blutdruckschwankungen sämtlicher Betrachter bei den einzelnen Szenen, bat die Testpersonen aber gleichzeitig auch um ihre subjektive Einschätzung, wie stark sie sich erregt fühlten.
Die Testresultate der Männer bestätigten die traditionellen Lustvorstellungen der Sexualforschung: Heteros wurden durch Sex von Hetero-Paaren stimuliert, durch lesbischen Sex, durch die turnende Nackte und die masturbierende Frau, Schwule durch homosexuellen Sex. Ihre genitalen Blutdruckschwankungen stimmten mit ihrer subjektiven Einschätzung dessen, was sie stimuliert hatte, lückenlos überein. Körper und Kopf des Mannes waren sich einig.
Der Blutdruck der Frauen hingegen, heterosexuell wie lesbisch, stieg an, ob der Film Männer mit Männern, mit Frauen oder Frauen mit Frauen zeigte. Er stieg beträchtlich bei der nackten Turnerin, etwas weniger bei den Bonobos und am wenigsten beim schlendern-den Muskelmann am Strand, dessen Penis in Ruhestellung baumelte. Aber was die genitalen Messgeräte aufgezeichnet hatten, wurde in den weiblichen Köpfen nur zum Teil registriert: Heterosexuelle Frauen hatten sich durch lesbischen und schwulen Sex nicht annähernd so stimuliert gefühlt, wie dies ihr Blutdruck signalisiert hatte.
Und bei den Bonobos, sagten alle Frauen übereinstimmend, hätten sie kaum Erregung verspürt. In der Wahrnehmung der eigenen Lust schienen Kopf und Körper der Frauen in beträchtlicher Häufigkeit unabhängig voneinander zu reagieren.
Offenbar, vermutet Chivers, liegen den männlichen und weiblichen Erregungssystemen völlig unterschiedliche Prozesse zugrunde. Die Erklärung der Wissenschaftlerin für die weibliche Trennung zwischen körperlicher und subjektiv empfundener Lust ist vorsichtig. «Ich fühle mich wie ein Pionier am Rand eines riesigen Dschungels», sagte die 36-Jährige der New York Times, «es führt ein Weg hinein, aber er ist nicht sehr klar sichtbar.» Chivers vermutet, dass rein physiologische Erregung wenig über weibliche Wünsche verrät und Frauen Lust über den Kopf definieren: «Ansonsten müsste ich glauben, dass Frauen Sex mit Bonobos haben möchten.»
Ein Hauptargument für ihre Vermutung ist die Aussage zahlreicher Vergewaltigungsopfer, dass sie trotz Ekel und panischer Angst beim gewaltsamen Verkehr sexuell erregt gewesen, in manchen Fällen sogar zum Orgasmus gekommen seien. Gemäss Chivers’ Evolutions-Hypothese hat der weibliche Körper gelernt, auf die Wahrnehmung möglicher Sexualkontakte – auch gewalttätiger – so zu reagieren, dass er vor Verletzungen geschützt bleibt. Er produziert trotz gänzlichem Mangel an Lust eine vorsorgliche vaginale Feuchtigkeit.
«Der Orgasmus schlechthin»
Möglicherweise, sagt die Kanadierin, erkläre der Reflex auch die erstaunliche Reaktion ihrer weiblichen Testpersonen auf die erigierten Glieder der Bonobos und ihre körperliche Ungerührtheit beim Anblick des nackten und sichtlich nicht erregten Mannes am Strand. Aber sie erwägt auch eine zusätzliche Hypothese, der sie unbedingt eine künftige Studie widmen will: Auch sehr sexuelle Frauen haben nach ihren Beobachtungen im Gegensatz zu Männern eine eher reagierende als aggressive Sexualität: «Begehrt zu werden, ist für die weibliche Sexualität ein unglaublich mächtiger Faktor.»
Für Marta Meana, Psychologieprofessorin an der Universität von Nevada, ist der weibliche Wunsch nach männlichem Begehren «der Orgasmus schlechthin». Meana behandelte jahrelang Patientinnen, die beim Geschlechtsverkehr grosse Schmerzen hatten, und entdeckte, dass sich die Schmerzen verringerten, sobald die Frauen mehr Lust auf Sex verspürten. Es hatte wenig mit verbesserten Liebesbeziehungen zu tun. Weibliches Begehren, sagt Meana, werde entgegen gängiger Überzeugung nicht von Beziehungsfaktoren wie Zärtlichkeit oder Rücksicht bestimmt, die für Frauen im Gegensatz zu Männern nach weitverbreiteter Überzeugung angeblich so entscheidend seien. «In Wahrheit», sagt die Wissenschaftlerin, «ist die weibliche Lust narzisstisch, nicht beziehungsorientiert.» Studienergebnisse zeigten, dass erotische Frauenfantasien viel weniger als die der Männer darum kreisen, den Partner zu befriedigen, als selber befriedigt zu werden. In den Köpfen der Frauen ist die eigene Befriedigung der zentrale Punkt. «Wenn es um Lust geht», vermutet Meana, «sind Frauen möglicherweise viel weniger beziehungsabhängig als Männer.»
Mit Meredith Chivers teilt Meana die Überzeugung, dass die weibliche Sexualität geteilt sei, aber ihre Interpretation der Zweiteilung ist eine andere. Einerseits sei da die schiere Lust, andrerseits das jahrtausendealte Interesse an einer langlebigen, verlässlichen, Sicherheit bietenden Beziehung.
«Falsch ist der Gedanke, dass Beziehungen die primäre Quelle weiblichen Begehrens sind, nur weil sich Frauen für Beziehungen entscheiden. Was Frauen wollen», sagt die Professorin, «ist ein echtes Dilemma. Sie wollen an die Wand geschleudert werden, ohne gefährdet zu sein. Sie wollen einen fürsorglichen Höhlenmenschen.» Das ist nicht, was Ehemänner hören möchten. Ehefrauen auch nicht. Denn Männer werfen nach ein paar Ehejah-ren beim Heimkommen nur noch selten ihre Kleider schon unter der Haustür ab, weil die Lust sie übermannt. Was für ihre Frauen der Beweis ist, dass sie nicht mehr begehrt, sondern nur noch beschlafen werden, weil sie nun einmal verheiratet sind. Ein Jahrtausend-Missverständnis.
Dass der Sexualtrieb des Mannes stärker ist als derjenige der Frau, ist durch zahlreiche Studien belegt. Testosteron lässt den Blutdruck ungleich häufiger ansteigen als Östrogen. Marta Meana formulierte die Frauensicht im Gespräch mit der New York Times so: «Vielleicht mag ich Kuchen nicht ganz so oft wie du, aber wenn ich Kuchen esse, sollte er bitte vom Feinsten sein.» Und vom Feinsten ist Sex für heterosexuelle Frauen nach Meanas Erkenntnissen, wenn ein Mann ihnen zu verstehen gibt, dass sie sein absolut einziges Lustobjekt sind. Nicht mit süssen Worten, sondern mit einer rückhaltlosen Begierde, auf die Frauen ihrerseits mit erregter Hingabe reagieren.
Fantasie von der Vergewaltigung
Nach einer im letzten Jahr in der Fachzeitschrift The Journal of Sex Research veröffent- lichten Auswertung mehrerer Studien haben zwischen einem Drittel und der Hälfte der Frauen Vergewaltigungsfantasien, die sie erregen, häufig beim Geschlechtsverkehr. Sie hasse das Wort Vergewaltigungsfantasie, sagt Marta Meana, Vergewaltigung bedeute Kontrollverlust, Fantasie hingegen absolute Kontrolle, und der Unterschied zwischen der Realität und dem Film im Kopf sei riesig. Es handle sich um Fantasien, so sehr gewollt zu werden, dass man sich der Aggression unterwerfe. Mit Wörtern wie Aggression und Unterwerfung hadert die Psychologin allerdings: «Wir müssen neue Bezeichnungen finden für eine Fantasie, in der die Frau sich letztlich willentlich dem Mann ergibt.»
Interessanterweise ist eine der sexuellen Fantasien, die Frauen sexuell völlig kaltlassen, aktiver Sadismus. Während Masochismus, erlebt oder fantasiert, vielen Frauen vertraut ist, geniessen Dominas bei SM-Praktiken zwar ihre Überlegenheit, aber soweit bekannt, erregt es sie sexuell so gut wie nie. Auch Fetischismus, schreibt Daniel Bergner in seinem Buch «The Other Side of Desire», sei unter Frauen drastisch weniger verbreitet als unter Männern. Was immer die weibliche Lust entfacht: Wimmernde Männer im Latexanzug auszupeitschen, gehört nicht dazu.
Völlig anderer Meinung in Fragen weiblicher Lust als ihre beiden Kolleginnen Chivers und Meana ist Lisa Diamond, Co-Professorin für Psychologie und Genderstudies an der Universität von Utah. Ihr im letzten Jahr erschienenes und in den USA stark beachtetes Buch «Sexual Fluidity» (fliessende Sexualität) beginnt mit den Beispielen zweier prominenter Schauspielerinnen: Anne Heche, die sich 1997 in den offen lesbischen Comedy-Star Ellen DeGeneres verliebte und sie zwei Jahre später verliess, um einen Mann zu heiraten. Und Cynthia Nixon («Sex and the City»), die sich 2004 wegen einer Frau von ihrem langjährigen Lebenspartner trennte. «Was geht hier vor?», fragt Lisa Diamond. «Gingen diese Frauen zuvor nur durch eine Phase, oder gehen sie jetzt durch eine Phase?»
Diamonds Buch beruht auf einer Studie an hundert Frauen, die sich zu Beginn der Studie vor über zehn Jahren entweder als lesbisch oder bisexuell bezeichneten oder sich weigerten, ihre sexuelle Orientierung festzulegen. In den zehn Jahren, in denen die Forscherin sie befragte, wechselten ihre Beziehungen fliessend zwischen männlichen und weiblichen Partnern. «Ich verliebe mich in Menschen, nicht in Geschlechter», war der Satz, mit dem die meisten der Frauen ihre wechselnden Vorlieben zu erklären versuchten.
Lisa Diamond folgert daraus, dass zumindest für einen Teil der Frauen, wenn nicht für alle, Liebe und Lust nicht primär auf ein Geschlecht gerichtet sind, sondern durch Intimität und Vertrauen entstehen, ob mit einer Frau oder einem Mann. Weibliches Verlangen bezeichnet sie als dehnbar: «Fliessende weibliche Sexualität ist kein Glückstreffer», behauptet Diamond. Von den hundert Frauen hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Mehrheit nicht irgendwann für ein Geschlecht entschieden, sondern für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem eigenen, dehnbaren Verlangen.
Fehlende Theorien
Die Forscherin stellt nicht in Frage, dass Frauen genau wie Männer mit einer Vorliebe für das eine oder andere Geschlecht geboren werden. Aber nicht immer ist nach ihren Beobachtungen die angeborene Vorliebe stärker als die intensive Intimität von Begegnungen: «Fliessende Sexualität», sagt Diamond, «bedeutet nicht, dass alle Frauen bisexuell sind. Der Grad an fliessender Sexualität ist unterschiedlich. Man stellt es sich am besten als zusätzliche Komponente ihrer Sexualität vor, die neben ihrer Hetero- oder Homosexualität ihr Verhalten und ihre Fantasien beeinflusst. Das heisst nicht, dass ihr Verlangen sich endlos verändert, sondern nur, dass manchen Frauen eine grössere Auswahl erotischer Gefühle und Erfahrungen offensteht, als man man auf Grund ihrer sexuellen Orientierung annehmen würde.»
Die Psychologin Rebecca Shuster beobachtete, «dass Frauen sich oft in jemanden verlieben, dessen Geschlecht für sie unerwartet ist, und die Heftigkeit dieser Beziehung bringt sie dazu, ihre Identität neu zu überdenken.» Solche Erfahrungen enthüllen nach Shuster eine Breite sexueller und emotionaler Anziehung und Nähe von unendlicher Variabilität und und stellen zwangslaufig die Vorstellung einer bereits bei der Geburt festgelegten sexuellen Orientierung in Frage.
Niemand habe gegenwärtig eine umfassende Theorie zur weiblichen Lust, sagt Julia Heiman. Und die Direktorin des Kinsey-Instituts an der Universität von Indiana ist auch alles andere als sicher, dass es trotz Verkabelungen von Testpersonen, jahrelangen Interviews, pharmazeutischen Versuchen und medizinischer Erforschung des weiblichen Gehirns jemals so etwas wie eine Landkarte der weiblichen Lust geben wird.
«Blieb Freuds Frage fast ein Jahrhundert lang nicht deswegen unbeantwortet, weil sich die Wissenschaft nicht darum kümmerte», fragte die New York Times, «sondern weil sie nicht beantwortbar ist?»