"Ohne sexuelle Freiheit keine Demokratie"
Sexologe Erwin Haeberle konzipiert weltweit Aufklärungskurse. Er sagt: Erlaubt ist, was gefällt, solange niemand geschädigt wird. Und: Erst wenn Frauen frei sind, sind es auch Männer. Von Sabine Menkens
Erwin Haeberle empfängt uns in seiner Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Ein Neubau, siebter Stock, mit schönem Fernblick über die City-West. In den Regalen allerhand Nippes: ein Liebespaar, verschlungen im Kamasutra, ein Mini-Dildo im Holzdöschen, erotische Kunst aus Porzellan.
Seit Ende der 80er-Jahre lebt Haeberle (76), der sich scherzhaft den Grösaz, den "größten Sexualerzieher aller Zeiten" nennt, wieder in Deutschland. Ein Erdbeben in San Francisco und der fast gleichzeitige Mauerfall in Berlin haben den Professor für Sexualwissenschaft seinerzeit aus den USA wieder in die Heimat gelockt.
Als Direktor für Information arbeitete Haeberle damals im Aids-Zentrum des Robert-Koch-Instituts. Seine eigentliche Leidenschaft aber blieb die Sexualerziehung. Das von ihm gegründete Archiv für Sexualwissenschaft ist mittlerweile die größte einschlägige Informationsquelle im Internet. Haeberle bietet dort kostenlose Aufklärungskurse in vielen Sprachen an, die millionenfach abgerufen werden. Gut geklickt werden auch die Videos, in denen er aus dem Lesesessel in seinem Wohnzimmer über die schönste Sache der Welt räsoniert. Haeberle ist also nichts Menschliches fremd.
Welt Online: Herr Haeberle, wie wird man eigentlich Sexualwissenschaftler?
Erwin Haeberle: Ich wurde es durch Zufall, denn ursprünglich war ich Literaturwissenschaftler. Doch als ich nach meinem zweijährigen Habilitationsstipendium in Yale und Berkeley 1969 nach Deutschland zurückkam, hatten meine neidischen Kollegen dafür gesorgt, dass meine Assistentenstelle verschwunden war. Mit 33 Jahren stand ich arbeits- und mittellos auf der Straße.
Welt Online: Und dann?
Haeberle: Dann fand ich plötzlich einen Verrechnungsscheck in der Post. Anonym, über 1100 Mark. Es war genau der Preis eines Flugtickets nach New York. Was blieb mir anderes übrig? Ich ging ins Reisebüro, kaufte das Ticket und kehrte nach Yale zurück, wo man mich wieder aufnahm.
Dann, eines Tages, passierte dies: Ein Freund, der in New York für den Herder-Verlag arbeitete, weinte mir eines Tages beim gemeinsamen Mittagessen etwas vor. Der größte Bucherfolg damals war "Was Sie schon immer über Sex wissen wollten und nie zu fragen wagten" von Dr. Reuben - Woody Allen hat das später verfilmt. So ein Buch wollte er auch verlegen. Aber in einem katholischen Verlag?
Also haben wir zusammen geweint, und ich ging anschließend wieder auf der Fifth Avenue spazieren. Und was sehe ich da an der Ecke 42. Straße an der New York Public Library? Den "Stern" mit dem Titel: "Sensationelles Sexbuch der evangelischen Kirche!" Da hatten die doch tatsächlich ein Jugendlexikon über Sex herausgegeben. Da habe ich zu meinem Freund gesagt: "Wenn die Protestanten das können, dann können die Katholiken das auch."
Welt Online: Und, konnten sie?
Haeberle: Ich wurde gebeten, das Buch zu übersetzen. Aber es war tatsächlich unübersetzbar. Es war völlig auf deutsche Verhältnisse zugeschnitten; nichts davon passte auf Amerika. Ich musste es völlig neu schreiben. Der Titel war von mir: "The Sex Book". Es wurde ein riesiger Renner.
Welt Online: Und Ihr Einstieg in die "Sexologie" ...
Haeberle: Der Verleger gab mir anschließend 50.000 Dollar und sagte: "Write your own damn book." Und warum? Weil er mit dem ersten so wahnsinnig viel verdient hatte! Ein solcher Vorschuss war 1970 sehr viel Geld. Was sollte ich jetzt damit machen? Zunächst mal etwas ganz Natürliches: Ich kaufte mir ein Flugticket nach Honolulu, legte mich in Waikiki an den Strand und versank in tiefes Nachdenken.
Bei meinen Spaziergängen in der Stadt stieß ich dann auf die University of Hawaii – und die bot dort tatsächlich einen Magisterstudiengang in "menschlicher Sexualität" an. Ein großartiges Programm – aber ein Lehrbuch dafür gab es nicht. Also beschloss ich, selber eins zu schreiben. Es gibt ja keine bessere Methode, sich ein Fach zu erarbeiten! So entstand mein "Sex Atlas". Auch der wurde ein Riesenerfolg.
Außerdem wurde er mir noch als Dissertation anerkannt, denn gleichzeitig wurde in San Francisco eine private sexologische Hochschule eröffnet. Dort wurde ich dann Professor. Den Rest kennen Sie.
Welt Online: Es war aber auch eine Zeit, in der das auf fruchtbaren Boden fiel, oder? Die Leute hatten Nachholbedarf.
Haeberle: Aber sicher! Denken Sie nur an den Summer of Love 1967! In diesem Sommer war ich in San Francisco. (singt) If you're going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair! In San Francisco wurde ich also zum Hippie und zog in ein Hippie-Haus zu Leuten aus ganz Amerika, die von zu Hause weggelaufen sind, um dort zusammen zu leben. Sie hatten ein ganzes Haus gemietet, und für 50 Dollar konnte man da auch mitmachen. Das war also mein Summer of Love.
Das hatte nicht nur auf mich persönlich eine Wirkung, sondern hat auch eine ganze Reihe anderer Dinge losgetreten. Die Schwulenbewegung entstand daraus, die Frauenbewegung, die Naturheilbewegung, Psychedelic Rock und vieles andere. Es war der Aufbruch des spießigen Amerika in eine echte kulturelle Revolution – etwas völlig anderes als ein Jahr später die 68er-Revolution in Deutschland. Die 68er waren ja politisch und links – und in sexuellen Dingen trotz allem doch ziemlich spießig.
Welt Online: Kann es ohne sexuelle Freiheit Freiheit im Geiste geben?
Haeberle: Es lässt sich meines Erachtens alles reduzieren auf die Rolle der Frau: Erst wenn sie frei ist, sind es auch die anderen. Es ist eine krude Vorstellung, dass man die Frau unterdrücken muss, damit es dem Mann sexuell besser geht. Das absolute Gegenteil ist richtig! In einer sexuell repressiven Gesellschaft ist auch alles andere repressiv. Da kann es keine Freiheit geben und keine Demokratie. Dafür ist die Sexualität ein viel zu elementares Bedürfnis – so etwa wie das Bedürfnis zu sprechen.
Welt Online: Ist das der Grund, warum Sie sich als Aufklärer betätigen?
Haeberle: Ich halte es da mit Kant: Sexuelle Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten sexuellen Unmündigkeit. Das merken viele, vor allem die Frauen: In Hörsälen und Schulklassen sind es immer die Mädchen, nicht die Jungs, die Fragen stellen, die wissbegierig sind, was das Sexuelle angeht. Ich versuche, diesen Bedarf zu decken. Meine Kurse sind weltweit einmalig.
Welt Online: Im Grunde ist es doch Volkshochschule, die Sie da betreiben.
Haeberle: Ja sicher! Die Kurse sind vor allem für die Entwicklungsländer geschrieben. Man braucht dafür keine Vorkenntnisse und muss nur in der Lage sein, auf College-Niveau zu lesen. Die Übersetzungen haben Kollegen und ihre Studenten in aller Welt gemacht. Sie wollen eben mein Material für sich selber nutzen. So konnten wir die Kurse bereits in elf Sprachen übersetzen.
2004 durfte ich mein Projekt sogar in der Großen Halle des Volkes in Peking präsentieren. Die Chinesen waren begeistert – seitdem gibt es meinen sechssemestrigen Studiengang auch auf Chinesisch! Hinzu kommt meine ständig wachsende Online-Fachbibliothek. Sie ist mittlerweile weltweit die größte in der Sexualwissenschaft.
Welt Online: Sie sind quasi der Oswalt Kolle für die Entwicklungsländer.
Haeberle: Ich war gut mit Oswalt Kolle befreundet. Ich habe mich selbst mal scherzhaft den "Grösaz" genannt: den größten Sexualerzieher aller Zeiten (lacht). Die weltweite Wissbegierde ist enorm. Neulich schrieb mir ein Jurist aus Neu-Delhi: "Sie haben mit Ihren Informationen meine Ehe gerettet!"
Welt Online: Was die Ausgestaltung von Sexualität angeht, haben Sie einen zugegeben äußerst libertären Ansatz: Erlaubt ist, was gefällt.
Haeberle: ... solange andere nicht geschädigt werden. So lange geht das eben andere nichts an.
Welt Online: Und beim Fremdgehen? Da wird doch jemand geschädigt.
Haeberle: Nicht, wenn der Partner davon weiß und es billigt. Ich kenne z. B. Paare, die gemeinsam in den Swingerklub gehen oder die es anregt, mit Klamotten in den Pool zu springen. Mich hat das alles nie gereizt. Ich selbst bin in diesen Dingen eher konventionell, eigentlich sehr konventionell. Mein Partner und ich sind "ohne Ausflüge" seit 38 Jahren zusammen.
Welt Online: Sind Sex, Liebe und Ehe wirklich voneinander abzugrenzen?
Haeberle: Aber sicher! Ich bekam deswegen einmal einen bösen Brief von einem Vater von sechs Kindern. Ich habe ihm geantwortet: Es gibt sehr gute Sexualpartner, die man auf keinen Fall heiraten sollte. Da musste er mir zustimmen. Wenn man Liebe und Sex verwechselt, kommen leicht unglückliche Ehen zustande. Sexuelle Anziehung ist eine zu schmale Basis für eine Ehe. Eine Ehe ist aber eine sehr ernste Angelegenheit.
Welt Online: Sie begeben sich aber auch sonst mit vielen Themen auf Glatteis: Homosexualität, Prostitution, Abtreibung. Kennen Sie keine Tabus?
Haeberle: Ich behandele alle diese Themen – aber eben auf eine wissenschaftliche Weise, die eigentlich nicht angreifbar ist. Und es hat mich deshalb auch noch niemand attackiert. Dass meine Homepage im Iran blockiert ist, liegt am Thema "Sexualität" selbst, das man dort nicht diskutiert sehen möchte – die Iranerinnen finden aber Wege, meine Kurse trotzdem zu lesen. In China hingegen können Sie mich mit Baidu, dem chinesischen Google, leicht finden. Dort werden mit meinen Kursen jedes Jahr Tausende von Sexualerziehern ausgebildet.
1999, beim Weltkongress der Sexologen in Hongkong, war der Hauptredner Prof. Wu Jieping, damals der viertmächtigste Mann in China. Er sagte: Ein gesundes Sexualleben führt allgemein zu einem gesunden Leben, und das wiederum führt zu einem gesunden Alter. Zum Schluss präsentierte er noch einige sexuell sehr explizite Illustrationen aus dem alten China. Eine hieß z. B. "Playing the flute and drinking from the jade fountain". Wir Westler im Publikum waren baff: Keiner unserer Politiker würde doch jemals etwas Ähnliches sagen oder zeigen! Wir waren alle sehr begeistert.
Welt Online: In Deutschland wäre das schwer vorstellbar. Dabei wurde die Sexualwissenschaft im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland begründet, von Magnus Hirschfeld und anderen.
Haeberle: Allerdings außerhalb der Universität. Ich habe mich jahrelang dafür eingesetzt, an sein Erbe anzuknüpfen. Heute ist an der Humboldt-Universität immerhin meine gedruckte Fachbibliothek angesiedelt, das Haeberle-Hirschfeld-Archiv. Und es wird auch rege genutzt: Ein Kollege ist dafür schon zum dritten Mal aus Japan angereist.
Die Zukunft aber ist nicht das Papier, sondern das Internet. Mein Prinzip ist: Alles für die Nutzer kostenlos online. Ich kenne das gar nicht anders. Das Robert-Koch-Institut arbeitete, wie alle Bundesbehörden, grundsätzlich nach dem Prinzip "open access" – dort stellte man immer schon alles kostenlos ins Internet. Mit dieser Einstellung bin ich von Anfang an meine Arbeit gegangen.
Welt Online: Aber ganz kostenfrei kann dies nicht gehen, das Urheberrecht muss doch gelten.
Haeberle: Natürlich. Aber die Universitäten drücken sich immer noch vor den nötigen Strukturveränderungen. Die deutschen Universitäten tun sich da sehr schwer. Sie erkennen weder ihre globalen Chancen noch die globalen Verpflichtungen, die sich daraus ergeben.
Die Amerikaner sind da fixer. Harvard und das MIT investieren z. B. gerade 60 Millionen Dollar in die Entwicklung von "open access"-Online-Kursen – genau das, was ich schon so lange weltweit anbiete, und zwar völlig auf meine eigenen Kosten und ohne jede Einnahme. Ja, ich kann meine Kosten noch nicht einmal von der Steuer absetzen. Finanzielle Unterstützung bekomme ich von keiner Seite. Ich zahle alles selbst – seit über elf Jahren. Wie Sie sehen, bin ich komplett meschugge.
Welt Online: Ganz zum Schluss: Wie kann man in einer langjährigen Beziehung sexuell attraktiv füreinander bleiben?
Haeberle: Das kann man pauschal nicht beantworten und darf man auch nicht. Jede Ehe ist anders, und jedes Paar hat eine eigene Dynamik. Da entwickeln sich alle möglichen feinen Muster, Kompromisse und Anpassungsbeziehungen. Das Ziel muss ja sein, dass die Beziehung immer fester wird, nicht lockerer. Das schaffen nicht viele.
Ich selber habe da das große Los gezogen. Aber ich gebe nie irgendwelche konkreten Ratschläge. Ich bin kein Therapeut und will es nicht sein. Ich kläre nur auf - und sehr oft gebe ich den Menschen damit die Erlaubnis für das, was sie ohnehin schon tun.