Der Weltgeist liest und schaut Pornografie
Der Weltgeist liest und schaut Pornografieaus der Neuen Züricher Zeitung vom 04.01.2013
Bei den amerikanischen Wahlen am vergangenen 6. November, die neben dem Präsidenten auch Gouverneure, Senatoren und Staatsanwälte ins Amt brachten, wurde in vielen Regionen der USA auch über lokale Streitfragen entschieden. Die Ergebnisse sagen womöglich mehr über den Wandel in dem Land aus als Millionen von Wahlzetteln: So stimmten in einer County von Los Angeles die Wähler darüber ab, ob die Darsteller in Pornofilmen, die die ortsansässige Industrie in Massen produziert, Kondome tragen sollten oder nicht. Die kalifornischen Porno-Industriellen, die dort mehr als tausend Darsteller und noch viermal so viele Mitarbeiter beschäftigen, hatten mit ihrem Wegzug gedroht, falls ein solches Gesetz in Kraft trete, denn der internationale Porno-Zuschauer mag keinen Sex mit Kondomen. Trotzdem setzten 56 Prozent der Wähler und Wählerinnen das Kondomgebot durch.
Eine Sache des Volkes
Selbst in den puritanischen USA, wo die Four-Letter-Words, die bereits den Dreijährigen leicht über die Zunge gehen, in den öffentlichen Medien durch Beep-Töne gelöscht werden, ist so die Pornografie eine Sache des Volkes geworden. Rund um den Globus taucht eine riesige Internet-Community sorglos und unbeobachtet in den Konsum von pornografischen Bildern und Filmen ein. Der Weltgeist liest und schaut Pornografie. Noch aber fehlt es diesem Weltgeist an Unbefangenheit, um darüber auch ohne Beep zu reden. Doch der weltweite Erfolg der erotischen Romantrilogie «Fifty Shades of Grey» kündigt auch hier einen Wandel an.
Der Roman, der unter dem Pseudonym der Autorin E. L. James herauskam, wird gegenwärtig in alle Weltsprachen übersetzt und verspricht auch in jeder dieser Zungen Rekordauflagen. Die deutschsprachige Version des dritten Bandes ist kürzlich erschienen. Der Erfolg des Buches, das binnen weniger Monate sechzig Millionen Mal in allen Formaten verkauft wurde, hat auch darum Erstaunen erregt, weil darin die Geschichte einer sadomasochistischen Beziehung erzählt wird, die manchen Leser allzu rasch an den ehrwürdigen Marquis de Sade erinnerte.
Dabei ist «Fifty Shades of Grey» das reinste erotische Märchen, in dem der mit Schönheit, Jugend, Charme, Reichtum, Sensibilität, Klavierspiel und erotischer Fingerfertigkeit begnadete Titelheld Christian Grey seine Geliebte durch alle Lichtregionen des Glücks geleitet. Schatten werfen nur die dunklen Ereignisse aus Christians frühester Kindheit, die ihn zum Sklaven seiner perversen Lust gemacht haben; aber in einem Spannungsbogen, der durch alle drei Bände des Romans hält, treten das traumatisierte Kind und seine bösen Urheber über Albträume und Geständnisse allmählich ans Licht, und auf Christians Götterbild kann am Ende noch die Vollkommenheit des Ehemannes und Vaters getürmt werden.
Als die Ich-Erzählerin zur Geliebten Greys avanciert, hat sie eben ein Literaturstudium abgeschlossen und eine Arbeit über einen der freudlosen Romane Thomas Hardys geschrieben. Lange fürchtet der Leser, dass die Trübnisse von Hardys Erzählwelten auch noch die «Fifty Shades» verdunkeln, aber das bleibt ihm erspart. Stattdessen beobachtet er das Paar nicht nur bei Sado-Sex, sondern auch beim Genuss exquisiter Weine, feiner Speisen, klassischer Musik, moderner Kunst und tollkühner Verfolgungsfahrten.
Offenbar stört sich die weltweite Lesegemeinde, die gängiger Ansicht nach vor allem aus reiferen Frauen besteht, nicht an den Klischees und Unwahrscheinlichkeiten, welche die britische Autorin auf den fünfzehnhundert Seiten ausbreitet. Denn es ist ein spannungsreich und witzig erzähltes Märchen. Die Literaturkritik hat sich von dem Buch so beleidigt und degoutiert abgewandt wie ein Trüffelhund von einer faulen Kartoffel. Doch wer sich darauf beschränkt, dem Roman den Kunstwert abzusprechen, versäumt es, einen globalen Literaturerfolg zu bedenken, der in der Geschichte seinesgleichen sucht.
Die Macht der Mommies
Erstaunlich ist diese Karriere eines pornografischen Romans allemal. Oder ist es gar keine Pornografie? Tatsächlich benutzt die Erzählerin ausser einigen Four-Letter-Words aus dem Kinderlexikon keine vulgärsprachlichen Ausdrücke, und sie lässt die Protagonisten stets über ihre gewalttätige Lustbetätigung zärtliches Einverständnis herstellen. Und schliesslich werden die BDSM-Spielarten auch nicht einfach als perverser Sex präsentiert, sondern durch die infantilen Schrecken und Leiden des reichen Mannes lebensgeschichtlich motiviert. So kommen wie bei Marquis de Sade literarische Versatzstücke des Schauerromans ins Spiel. Nur sind es nicht mehr Ahnenfluch, Doppelgängerhorror und Findelkindschicksal, sondern aktuelle Traumapsychologie, die die Schreckenskammer der Erzählung mit Handfesseln, Peitschen, Genitalklemmen und Spreizstangen füllt. Vielleicht ist es ja eine List der pornografischen Vernunft, dass sie unsere Anfälligkeit für Opferleiden als Türlein nutzt, um endlich auch Perversionen, krude Lust und genitalen Narzissmus bei uns eintreten zu lassen. Ausserdem benutzen die Protagonisten des Romans gewissenhaft Kondome.
Aber noch etwas hat sich geändert. Als vor sechzig Jahren Alfred C. Kinseys Untersuchung über das sexuelle Verhalten der US-amerikanischen Frauen Aufsehen erregte, da spielte die Frage nach dem Konsum von Pornografie keine Rolle. Jetzt machen sich manche darüber lustig, dass E. L. James' Sado-Roman ein «Mommy-Porno» sei. Der Spott ist kleine Münze. Die Mommies haben in den USA Barack Obama wiedergewählt, die Mommies wollen, dass Pornodarsteller Kondome tragen, die Mommies haben der Pornoliteratur die Tür geöffnet. Der Weltgeist wohnt bei den Mommies.
Eine Sache des Volkes
Selbst in den puritanischen USA, wo die Four-Letter-Words, die bereits den Dreijährigen leicht über die Zunge gehen, in den öffentlichen Medien durch Beep-Töne gelöscht werden, ist so die Pornografie eine Sache des Volkes geworden. Rund um den Globus taucht eine riesige Internet-Community sorglos und unbeobachtet in den Konsum von pornografischen Bildern und Filmen ein. Der Weltgeist liest und schaut Pornografie. Noch aber fehlt es diesem Weltgeist an Unbefangenheit, um darüber auch ohne Beep zu reden. Doch der weltweite Erfolg der erotischen Romantrilogie «Fifty Shades of Grey» kündigt auch hier einen Wandel an.
Der Roman, der unter dem Pseudonym der Autorin E. L. James herauskam, wird gegenwärtig in alle Weltsprachen übersetzt und verspricht auch in jeder dieser Zungen Rekordauflagen. Die deutschsprachige Version des dritten Bandes ist kürzlich erschienen. Der Erfolg des Buches, das binnen weniger Monate sechzig Millionen Mal in allen Formaten verkauft wurde, hat auch darum Erstaunen erregt, weil darin die Geschichte einer sadomasochistischen Beziehung erzählt wird, die manchen Leser allzu rasch an den ehrwürdigen Marquis de Sade erinnerte.
Dabei ist «Fifty Shades of Grey» das reinste erotische Märchen, in dem der mit Schönheit, Jugend, Charme, Reichtum, Sensibilität, Klavierspiel und erotischer Fingerfertigkeit begnadete Titelheld Christian Grey seine Geliebte durch alle Lichtregionen des Glücks geleitet. Schatten werfen nur die dunklen Ereignisse aus Christians frühester Kindheit, die ihn zum Sklaven seiner perversen Lust gemacht haben; aber in einem Spannungsbogen, der durch alle drei Bände des Romans hält, treten das traumatisierte Kind und seine bösen Urheber über Albträume und Geständnisse allmählich ans Licht, und auf Christians Götterbild kann am Ende noch die Vollkommenheit des Ehemannes und Vaters getürmt werden.
Als die Ich-Erzählerin zur Geliebten Greys avanciert, hat sie eben ein Literaturstudium abgeschlossen und eine Arbeit über einen der freudlosen Romane Thomas Hardys geschrieben. Lange fürchtet der Leser, dass die Trübnisse von Hardys Erzählwelten auch noch die «Fifty Shades» verdunkeln, aber das bleibt ihm erspart. Stattdessen beobachtet er das Paar nicht nur bei Sado-Sex, sondern auch beim Genuss exquisiter Weine, feiner Speisen, klassischer Musik, moderner Kunst und tollkühner Verfolgungsfahrten.
Offenbar stört sich die weltweite Lesegemeinde, die gängiger Ansicht nach vor allem aus reiferen Frauen besteht, nicht an den Klischees und Unwahrscheinlichkeiten, welche die britische Autorin auf den fünfzehnhundert Seiten ausbreitet. Denn es ist ein spannungsreich und witzig erzähltes Märchen. Die Literaturkritik hat sich von dem Buch so beleidigt und degoutiert abgewandt wie ein Trüffelhund von einer faulen Kartoffel. Doch wer sich darauf beschränkt, dem Roman den Kunstwert abzusprechen, versäumt es, einen globalen Literaturerfolg zu bedenken, der in der Geschichte seinesgleichen sucht.
Die Macht der Mommies
Erstaunlich ist diese Karriere eines pornografischen Romans allemal. Oder ist es gar keine Pornografie? Tatsächlich benutzt die Erzählerin ausser einigen Four-Letter-Words aus dem Kinderlexikon keine vulgärsprachlichen Ausdrücke, und sie lässt die Protagonisten stets über ihre gewalttätige Lustbetätigung zärtliches Einverständnis herstellen. Und schliesslich werden die BDSM-Spielarten auch nicht einfach als perverser Sex präsentiert, sondern durch die infantilen Schrecken und Leiden des reichen Mannes lebensgeschichtlich motiviert. So kommen wie bei Marquis de Sade literarische Versatzstücke des Schauerromans ins Spiel. Nur sind es nicht mehr Ahnenfluch, Doppelgängerhorror und Findelkindschicksal, sondern aktuelle Traumapsychologie, die die Schreckenskammer der Erzählung mit Handfesseln, Peitschen, Genitalklemmen und Spreizstangen füllt. Vielleicht ist es ja eine List der pornografischen Vernunft, dass sie unsere Anfälligkeit für Opferleiden als Türlein nutzt, um endlich auch Perversionen, krude Lust und genitalen Narzissmus bei uns eintreten zu lassen. Ausserdem benutzen die Protagonisten des Romans gewissenhaft Kondome.
Aber noch etwas hat sich geändert. Als vor sechzig Jahren Alfred C. Kinseys Untersuchung über das sexuelle Verhalten der US-amerikanischen Frauen Aufsehen erregte, da spielte die Frage nach dem Konsum von Pornografie keine Rolle. Jetzt machen sich manche darüber lustig, dass E. L. James' Sado-Roman ein «Mommy-Porno» sei. Der Spott ist kleine Münze. Die Mommies haben in den USA Barack Obama wiedergewählt, die Mommies wollen, dass Pornodarsteller Kondome tragen, die Mommies haben der Pornoliteratur die Tür geöffnet. Der Weltgeist wohnt bei den Mommies.