Unterschiedliche Syndromformen
Sowohl AD(H)S als auch Autismus sind Syndrome, das heißt, sie sind Kombinationen einer ganzen Reihe von Symptomen. Weil weder AD(H)S noch Autismus sauber durch Kausalketten von Ursachen und Wirkungen definiert wird, sondern "nur" durch Zustands- und Verhaltensformen, ist es auch so schwierig, eine glasklare Diagnose zu stellen.
Fast alle Symptome beider Syndrom-Formen haben ursächlich etwas mit Erkennens-Prozessen im menschlichen Hirn zu tun: Nur wenn etwas von uns, ob nun bewusst oder unbewusst, als relevant erkannt wird, kann eine Aktion oder Reaktion stattfinden. Meistens handelt es sich dabei nicht um einen einzelnen Erkennensakt, sondern um eine ganze Kette. Den Sinnzusammenhang eines gesprochenen Satzes zu erkennen, erfordert beispielsweise eine ganze Kette von einzelnen Erkennensakten.
Damit der Erkennensprozess uns nicht völlig überfordert, also beispielsweise jedes noch so kleine Geräusch uns in Alarmbereitschaft versetzt, sind an vielen Stellen Aufmerksamkeitsschwellen eingebaut, die überschritten werden müssen, damit wir überhaupt etwas wahrnehmen. Liegen die Schwellen zu niedrig, sind wir ständig am (Re-) Agieren. Außenstehende meinen dann, man sei hyperaktiv. Liegen die Schwellen zu hoch, erfolgen unsere (Re-) Aktionen oft zu spät oder gar nicht. Außenstehende meinen dann, man sei apathisch, oder in sich zurückgezogen.
Wie bildgebende nicht-invasive Verfahren zur Hirnforschung wie fmRT oder PET zeigen, sind die Hirnregionen, die für Erkennungsprozesse zuständig sind, über viele Stellen des Hirns verteilt. Es kann daher sein, dass in einer Hirnregion die Aufmerksamkeitsschwellen zu niedrig sind, in anderen zu hoch, und in wieder anderen durchschnittlich. So erklären sich die unterschiedlichen Syndromformen.
Aus genau diesem Grund ist eine medikamentöse Behandlung auch so schwierig: Ein Medikament, dass
alle Schwellen hochsetzt, hilft Patienten, bei denen alle oder fast alle Schwellen zu niedrig sind, bereitet aber Patienten, diei teils zu hohe und teils zu niedrige Schwellen haben, Unbehagen und verschlechtert den Zustand von Patienten, deren Schwellen zu hoch liegen.
Zum Teil können Schwellen durch Training verändert werden, zum Teil verändern sie sich bei Änderung des Hormonhaushalts. Das erklärt, warum Patienten beim Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter die Symptomatik verändern.
Ob man also nun "nur" AD(H)S hat, oder auch noch Symptome zeigt, die in die Symptomgruppe von Autismen gehören, hängt von einer ganz individuellen Verteilung der Aufmerksamkeitsschwellen ab.
Sind beispielsweise die eigenen Erkennensschwellen der Spiegelneuronen zu hoch, dann wird man Probleme haben, Emotionen bei anderen zu erkennen. Das muss aber nicht mit zu hohen Schwellen in anderen Bereichen haben. Liegen diese beispielsweise etwas, aber nicht viel zu niedrig, dann geht unter Umständen der Erkennensprozess auf anderen Gebieten relativ schnell und man wird das mit erhöhter Intelligenz in Verbindung bringen.
Langer Rede kurzer Sinn: Jeder Betroffene hat eine individuelle Symptomatik, die nur teilweise durch Medikamente, und nur teilweise durch Training beeinflusst werden kann.
Und manchmal kann eine verständisvolle Umwelt helfen.