Warum trinkt man Tomatensaft im Flugzeug
Ist es, weil der Nachbar danach verlangt (Domino-Effekt) oder liegt es am Nährwert (Snackersatz)? Warum so viel Tomatensaft an Bord von Flugzeugen getrunken wird, war bisher ein Mysterium. Bekannt sind die enormen Mengen, die etwa die Lufthansa heranschleppen muss: 1,7 Millionen Liter waren es 2008, im Vergleich dazu wurden nur 1,65 Millionen Liter Bier ausgeschenkt. "Den Saft mit Salz und Pfeffer?", fragen die Flugbegleiterinnen und kippen die rote sämige Flüssigkeit aus Pappkartons in Plastikbecher, dazu reichen sie eine Serviette und Umrührbesteck.Luftfahrtbranche und Passagiere wundern sich über den Hype, die Gemüsesaftindustrie freut sich. Denn ansonsten gilt das Nachtschattenelixier nicht als Gourmet-verdächtig: Am Boden wird Tomatensaft als muffig beschrieben, erzählte Andrea Burdack-Freitag der Zeitung "Die Zeit". Doch über den Wolken treten "angenehm fruchtige Gerüche und süße kühlende Geschmackseindrücke in den Vordergrund". Die Aroma-Chemikerin am Fraunhofer-Institut in Holzkirchen hat im Auftrag der Lufthansa einen Geschmackstest von Bordmahlzeiten durchgeführt. Sie schickte Probanden zum Verkosten in eine Niederdruckkammer, die die Verhältnisse in Reiseflughöhe simuliert.
Die Testpersonen lieferten die nun wissenschaftlich fundierte Lösung: Bei dem im Flugzeug herrschenden niedrigen Luftdruck steigt die sogenannte Geruchs- und Geschmacksschwelle - Kräuter, Gewürze, Salz und Zucker müssen höher dosiert werden, um wahrgenommen zu werden. Man rieche die Speisen und Getränke "als hätte man einen Schnupfen", sagte Burdack-Freitag der Zeitung. Salz werde 20 bis 30 Prozent, Zucker 15 bis 20 Prozent weniger intensiv geschmeckt. Dagegen bleibe die Wahrnehmung von fruchtigen Aromen stabiler. Und voilà, der sonst so langweilige und etwas giftig riechende Tomatensaft wird zum Geschmackserlebnis - solange kräftig nachgesalzen wird.
Zugleich aber wird Kaffee oft als bitter empfunden und Riesling als zu sauer, erzählt die 36-jährige Chemikerin, schwere Rotweine mit Aromen von roten Beeren dagegen gefielen den Testern. Was am Boden exzellent abgeschmeckt wurde, kann in der Höhe einen faden Eindruck machen. Den Köchen der Lufthansa-Caterer-Tochter LSG Sky Chefs sind die Auswirkungen des Luftdrucks auf den Geschmack bekannt, sagte Lufthansa-Sprecher Jan Bärwalde SPIEGEL ONLINE, berücksichtigt werde das bereits jetzt. Die Studie der Holzkirchener Forscher sollte helfen, die Unterschiede am Boden und in der Luft zu quantifizieren: "Die Ergebnisse zu Salz, Zucker, Kräuter und Säure werden 1:1 in die Rezepturen übernommen."
Die Erkenntnisse der Aroma-Chemikerin dienen nun allerdings auch allen anderen Airlines wunderbar als Ausrede für weniger gelungenen Gerichte in der Aluverpackung. Eine Entschuldigung für matschigen Brokkoli, verkochte Nudeln und faserige Fleischfetzen wird aber auch die gestiegene "Geschmacksschwelle" nicht liefern können. Zur Erinnerung an erlittene Qualen über den Wolken: Auf der englischsprachigen Website Airlinemeals können sich Passagiere durch Tausende Bordspeisen der Gegenwart und Vergangenheit klicken - allein die Lufthansa ist dort mit 777 Gerichten vertreten.