*******geur:
Ist es wahr, dass an den Schulen nur noch Dinge gelehrt werden, die kein Mensch später nochmal braucht?
"Die Schulen" gibt es in diesem Sinn nicht, unser Schulsystem ist sehr weit gefächert und differenziert. Ich lebe in Baden-Württemberg, und Gymnasien sind hier darauf ausgerichtet, den Schülern eine Studierfähigkeit mit auf den Weg zu geben, also Fertigkeiten und Fähigkeiten, die an den Hochschulen, bis hin zu Universitäten im "alten", allumfassenden Sinn gebraucht werden, um erfolgreich dort seiner weiteren Bildung und Ausbildung nachkommen zu können. Gedichtanalysen und so maches andere hat da sehr wohl seinen Platz, es geht auch darüm, über seinen alltäglichen Tellerrand hinaus sich mit im ersten Moment "fremdartigen" Dingen zu beschäftigen.
Erstens schult und trainiert es diese Fähigkeit und zweitens ist dies eine tolle (und häufig die einzige!) Gelegenheit, überhaupt jemals im Leben mit sowas in Berührung zu kommen. Ein Jugendlicher, der aus einem Elternhaus kommt, in dem kaum gelesen wird, käme sonst eventuell niemals mit Literatur in Berührung. Dies gilt analog für Bildende Kunst, Musik, Geschichtswissen und vieles vieles andere, das ich hier nicht einzeln aufzuführen brauche.
Es gibt sogar Menschen, die die Beschäftigung mit Literatur (bzw. all den anderen Dingen, die man angeblich "später nie wieder braucht"), in unterschiedlicher Form später zu ihrem Beruf machen, was sie vermutlich nicht getan hätten, wenn ihnen Wege dazu nicht während der Schulzeit skizziert und ein Grundverständnis dafür vermittelt worden wäre.
Bleibt "lebensnötiger" Stoff auf der Strecke?
Ist die Schule gar nicht für solche Inhalte verantwortlich?
Nein, der Meinung bin ich nicht, dass solcher Stoff auf der Strecke beleibt. Die Baden-Württembergische Landesverfassung schreibt vor, dass in a l l e n Schularten das Fach Gemeinschaftskunde zu lehren ist. Dort haben Themen Platz, die sich mit dem Zusammenleben im Staat, Aufbau und Aufgaben des Staates und der öffentlichen Verwaltung, Rechts- und Wirtschaftssystem etc. befassen.
In vielen beruflichen Schularten ist zusätzlich das Fach Wirtschaftskunde vorgeschrieben, wo man speziell Kenntnisse erwirbt über den Umgang mit Geld, Steuern, Entgeltsysteme, Tarif- und Arbeitsverträge, Sozialversicherungen, sonstige private Versicherungen, Unternehmensformen, Verbraucherschutz, Mietrecht, Kaufvertrag, Rechts- und Geschäftsfähigkeit etc. - also genau das, was ein "Durchschnittsbürger" später im Leben an alltagstauglichem und -nötigem Allgemeinwissen braucht um z.B. in der Lage zu sein, auch den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung verstehen zu können.
Schule kann in diesen Dingen allerdings jeweils eh nur Überblickswissen vermitteln und Grundsätzliches an ein paar Beispielen erläutern, jeder Einzelne muss das, was er/sie dan später mal genauer braucht, sich selbst beschaffen und erarbeiten. Wie das geht, das bringt man ihm in der Schule bei. Tun und sich die jeweils benötigten weiteren Informationen besorgen, muss jeder volljährige Staatsbürger selbst!
Grundsätzlich ist aber Schule die sogenannte sekundäre Sozialisationsinstanz, die primäre Sozialisation, zu der auch die Einführung in die Gesellschaft und ihre Mechanismen gehört, ist Aufgabe der Familie, wie auch immer diese beschaffen sein mag.
Ich hatte am Gym z.B. keinen Hauswirtschaftsunterricht, Mama war alleinerziehend berufstätig, woher hätte ich solche Sachen lernen sollen?
Ich hatte auch keinen Hauswirtschaftsunterricht, und auch meine Mutter war berufstätig, aber alles, was zur Hauswirtschaft gehört, habe ich eben zu Hause, "so nebenbei" gelernt, putzen, kochen, backen, nähen, waschen, Wäschepflege, Auto- und Fahrradpflege, Gartenarbeiten, Einkaufen, Vorratshaltung usw., da es selbstverständlich war, dass wir Kinder diese Aufgaben zusammen mit den Erwachsenen erledigt haben. Learning by doing.
Diese Dinge kann und sollte meines Erachtens auch heute noch jede Familienstruktur Kindern vermitteln, was aber oft unterbleibt. Dies rechtfertigt in meinen Augen jedoch nicht, zu fordern, dass staatliche Strukturen, sei es Kita oder Schule, diese privaten Defizite dann auffangen oder gleich ganz übernehmen sollen, denn dafür sind sie nicht da. Mich ärgert diese zunehmende Anspruchs- und Konsumentenhaltung, die sich diesbezüglich bei vielen Eltern breit macht, und die dann auch den Jugendlichen so weitervermittelt sind, wenn sie eine weiterführende Schule besuchen.
So spezielle Kenntnisse, die jeweils auch eine spezielle Ausbildung voraussetzen, sei es nun die im EP erwähnte Gedichtanalyse, oder meinetwegen auch Infinitesimalrechnung oder Grundlagen chemischer Reaktionen und vieles mehr, kann die Familie jedoch gewöhnlich nicht weitergeben, das ist daher Aufgabe der Schulen und später der weiteren Ausbildung, sei sie nun dual oder an einer Hochschule oder Universität, wo dementsprechend qualifizierte Lehrer oder Anleiter genau zu diesem Vermittlungs-Zweck angestellt sind.
Tantrissima