Die große Verirrung der Gesellschaft ..
Mehr Haltung bitte!
Auf den Tugendterror zu schimpfen gehört zum guten Ton der konservativen Kulturkritik – nicht ganz zu Unrecht. Warum wir mehr Moral brauchen, es uns mit ihr aber nicht zu leicht machen sollten
http://www.zeit.de/2018/07/m … kulturkritik/komplettansicht
Freiheit, Nächstenliebe, Menschenwürde, Demokratie – jahrzehntelang kamen diese Worte Politikern und Journalisten wie selbstverständlich über die Lippen. Und wie selbstverständlich gab es Ohs und Ahs von links wie rechts dafür. So beschwor man Freiheit mehr, statt über sie zu sinnen. So zitierte man Menschenwürde lieber, statt zu fragen, was an ihr ewig ist und unantastbar. So leistete man pflichtbewusst seinen demokratischen Beitrag, ging wählen, ließ sich wählen und fragte nie: Warum das Ganze?
Genau das fragen nun die AfD und die renitenten Konservativen. Was sie aber gerne übersehen über der modischen Moralkritik: Auch auf der konservativen Seite des politischen Spektrums gibt es mindestens so viel Denkfaulheit und Häme. Auch hier verkleidet man sich mangels Ideen als tragischer Held und kämpft gegen Meinungsdiktatur und politische Verirrung. Auch hier wird diffamiert, gehasst, verunglimpft. Auch hier beansprucht man die Freiheit des Andersdenkenden in erster Linie für sich selbst und kennt nur Freund und Feind und nichts dazwischen.
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Es lohnt sich, Gehlen heute neu zu lesen. Mit ihm versteht man besser, woher sie kommt, die neue deutsche Moralkritik, was sie will und was sie mal wollte. So ist in Gehlens Essay Moral und Hypermoral aus dem Jahre 1969 vom Gutmenschen über die Lügenpresse bis zum Gesinnungsstalinismus bereits alles vor- und durchgedacht, was momentan vom rechten Rand in die gesellschaftliche Mitte rinnt. So auch der Hass auf Intellektuelle, Meiner, Profi-Moralisten. Der Intellektuelle, so Gehlen, mache die Moral zum Maßstab aller Dinge, er "luxuriere" seinen "Ethos", bis er zur Zumutung werde für Deutschland und die Menschheit. Nahezu unverfälscht findet sich Gehlens Antiintellektualismus in Alexander Graus Moral-Traktat. Mit "der Erfindung der Ethik", schreibt dieser, "tritt zugleich ein neuer Typus Mensch auf den Plan: der Fachmann für das richtige Handeln, der Intellektuelle. Er ist der Hohepriester der neuen, rational begründeten Moral. Mit ihr im Rücken macht er sich daran, die Gesellschaft zu kritisieren."
In einer Demokratie, wo jeder alles sagen kann, scheint nichts mehr per se richtig oder falsch zu sein, denn jegliche Meinung ist ja ok. Egal, ob Unmenschlichkeit, Ausbeutung, Rassismus zur Debatte stehen - jeder darf seinen Schwachsinn mit Schlag auf die hohle Brust hinaus krakeelen. Und da das inzwischen die meisten nun tun, spiralt es immer schriller und lauter, sonst wird man ja nicht mehr gehört (Hat eine Frau A. Nahles tragisch verinnerlicht, scheint's.) Ist es schon zu gewagt, ab dieser Stelle wieder von allgemeiner Verrohung zu sprechen, wenn jeder Anstand und ethische Rührung bereits als Meinungsdiktatur (vor allem gegen die Grünen) beschimpft wird, wenn eben nicht aus dem eigenen Lager kommend?
Kommentar eines Leser:
"Ich kenne diese Erzählweise hauptsächlich aus CDU und JU Kreisen.
'Alle anderen' sind Ideologen.
'Ideologie ist schlecht.'
An dem Punkt ist meist jede Diskussion beendet.
Denkfauler geht es nicht!"
Ideologien als Wertvorstellungen in der Welt hat jeder. Die der Anderen sind halt per se die schlechteren und damit ist der Begriff dann negativ besetzt. Was den Unterschied macht: sich nur an der eigenen Eitelkeit zu ergötzen und Burgmentalität zu beklatschen ist eben nicht damit vergleichbar, sich für Gerechtigkeit für
alle und gegen Ausbeutung einzusetzen.