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Einen ersten Höhepunkt erreichte die Protestbewegung am 31. März 2016, als nach Polizeiangaben rund 390000 - nach Gewerkschaftsangaben 1,2 Millionen - Menschen in ganz Frankreich auf die Straße gingen. Am Abend dieses Tages versammelten sich auf dem Pariser Place de la Republique meist Schüler und Studenten zur ersten „Nuit Debout" (etwa: Aufrecht-/Wachbleiben in der Nacht), jener basisdemokratischen Permanentdiskussion, die seither täglich um 18 Uhr stattfindet und die weiteren Proteste begleitet. Es sind Vollversammlungen, bei denen zwar Beiträge über Mikrofone durchgegeben werden, die Sprechenden aber nur auf einer Redeliste mit Vornamen, nicht als Repräsentanten einer Organisation geführt werden und sich aufeinander beziehen sollen. Die Redezeit ist auf drei bis maximal fünf Minuten begrenzt, Zustimmung wird durch Armewedeln der Sitzenden nach dem Vorbild der Gebärdensprache ausgedrückt. Nach einer ersten Diskussion mit Stimmungsbild wandert ein thematischer oder ein Aktionsvorschlag in eine der vielen Arbeitskommissionen, wo er weiterentwickelt und das Ergebnis dann der Vollversammlung wieder zur Abstimmung vorgelegt wird. Das Modell kam bereits im Jahr 2011 bei Occupy Wall Street in New York oder später bei den Indignados auf der Puerta del Sol in Madrid zum Einsatz. Der Entscheidungsprozess stellt eine Mischung aus Konsenssystem und Abstimmung dar. Entschieden wurden so die grundlegenden Prinzipien, nach welchen Nuit Debout eine Diversität der Aktionsformen aufruft, Individuen nur für sich selbst sprechen und niemand für die Gesamtbewegung sprechen kann und man sich gegen die Gründung einer Partei ausspricht, um sich von niemandem vereinnahmen zu lassen. 9 Im Gegensatz zur Arbeiterbewegung wurden hier der französische Neokolonialismus und Rassismus, Sarkozys und Hollandes Kriege sowie deren Atompolitik grundsätzlich kritisiert. Die bisherige Praxis von Nuit Debout führte jedoch in einige organisatorische Sackgassen: Weil das quasi aus den Universitäten auf die Straße getragene studentische Vollversammlungspraktiken sind, die viel Zeit und Energie kosten, konnte der programmatische Schritt zur „Zusammenführung der Kämpfe" mit Arbeitern und Migranten nur in Ansätzen erfolgen; die Ausweitung der Diskussionsforen auf Provinzstädte oder Pariser Banlieues kam über sporadische Aktionen nicht hinaus.
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Auszug aus dem Artikel:
„Das letzte Gefecht für Frankreichs Regierung? - Eine dezentrale Abnutzungsstrategie der französischen Gewerkschaften drängt den Staat beim Kampf gegen das Arbeitsreformgesetz in die Defensive“
Von Lou Marin -
Quelle:
Hintergrund ; Ausgabe:
3/2016