Der RADKALE KONSTRUKTIVISMUS:
(nachfolgende Ausführungen stammen aus diversen Quellen– Quellenangaben zum Schluss)
2. Der
Konstruktivislums:
Der philosophische Begriff "Konstruktion" (lat. constructio, griech. kataskeuá, genesis, systema, syntaxis, syntagma) hat eine bis auf die Antike zurückgehende Tradition und erreicht einen Höhepunkt bei Kant, der zwar den Terminus in einem engen Sinne verwendet, dessen "transzendentaler" Ansatz aber insgesamt als "konstruktivistisch" bezeichnet werden kann. In der Logik, etwa in P. Lorenzens "Dialogtheorie", wird der Konstruktionsbegriff im Sinne der "Spielregeln" zur Regulierung von Rede und Gegenrede gebraucht ("konstruktive Logik")
Der Konstruktivismus ist - zunächst - keine Theorie der Gesellschaft oder der Pädagogik, sondern eine Metatheorie, die die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher (wissenschaftlicher und alltäglicher) Theoriebildung beschreibt. Konstruktivisten sind Beobachter II. Ordnung, sie beobachten wie im Alltag oder in der Wissenschaft Wirklichkeit beobachtet und dadurch erzeugt wird. Theorien sind demnach beobachtungsabhängige Konstruktionen - wörtlich übersetzt heißt Theorie = Beobachtung. Das erkennende Subjekt und der Erkenntnisgegenstand sind untrennbar miteinander verbunden, mehr noch: Der Erkenntnisgegenstand und das Problem werden durch den erkennenden Beobachter erzeugt. Auf diesen Zusammenhang verweist Humberto Maturanas Formulierung: "Alles Gesagte ist von jemandem gesagt." (Maturana, Varela 1987, 32). "Diese Zirkularität, diese Verkettung von Handlung und Erfahrung, diese Untrennbarkeit einer bestimmten Art zu sein von der Art, wie die Welt uns erscheint, sagt uns, dass jeder Akt des Erkennens eine Welt hervorbringt." (ebd. 31). Der Konstruktivismus ist also keine Ontologie oder Metaphysik, er macht keine Aussagen über das Wesen der Welt, über das "Sein", sondern ist eine reflexive Erkenntnistheorie, die etwas aussagt über die menschliche Orientierung in der Welt. "In diesem Sinne werden wir ständig festzustellen haben, dass man das Phänomen des Erkennens nicht so auffassen kann, als gäbe es 'Tatsachen' und Objekte da draußen, die man nur aufzugreifen und in den Kopf hineinzutun habe."
Unsere Sinnesorgane, unsere Kognitionen, unser Gedächtnis produzieren also keine Abbildungen der äußeren Realität, sondern sie konstruieren Wirklichkeiten zum Zweck erfolgreicher Handlungen. "Wir erleben nicht den 'Raum' der Welt, sondern wir erleben unser visuelles Feld, wir sehen nicht die 'Farben' der Welt, sondern wir erleben unseren chromatischen Raum." Streng genommen können wir nicht behaupten: "Der Himmel ist
blau." Allenfalls können wir feststellen: "Der Himmel erscheint uns blau."
Die Konstruktivisten distanzieren sich von herkömmlichen Theorien, die Erkenntnis als Repräsentation, als Abbildung oder als Widerspiegelung der objektiven Welt verstehen. So schreibt Francisco Varela: "In dieser meiner Auffassung dient das Gehirn also vor allem dem ständigen Hervorbringen von Welten im Prozess der viablen Geschichte von Lebewesen; das Gehirn ist ein Organ, das Welten festlegt, keine Welt spiegelt." (Varela 1990, 109).
Obwohl Erkenntnis ein biografisch bedingter und damit höchst individueller, einmaliger Vorgang ist, ereignet sich Erkennen in sozialen Kontexten. Viabel, also erfolgreich ist eine Erkenntnis meist dann, wenn sie konsensfähig ist. In diesem Sinn definiert Francisco Varela Intelligenz "als die Fähigkeit, in eine mit anderen geteilte Welt einzutreten."
So gesehen ist der kognitive Konstruktivismus immer auch ein sozialer Konstruktivismus: Wir konstruieren unsere Wirklichkeit gemeinsam mit anderen und in unseren sozialen Milieus. Varela unterscheidet drei zeitliche Ebenen der Erzeugung von Lebenswelten: die evolutionsgeschichtliche Entwicklung, die individuell-biografische Entwicklung und die gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung.
Selbstverständlich konstruieren wir nicht nur eine Welt, wir leben auch in einer Welt. Die Welt ist vorhanden, wir können sie nicht ignorieren. Aber das Verhältnis zwischen uns und der Außenwelt (sowohl der gegenständlichen als auch der sozialen Umwelt) ist das einer "strukturellen Koppelung". Es muss ein Minimum an "Korrespondenz", an Entsprechung" zwischen unseren Konstrukten und den Umwelten vorhanden sein, damit unser Handeln viabel, erfolgreich ist.
Humberto Maturana und
Francisco Varela, die als Begründer des modernen Konstruktivismus bezeichnet werden können (obwohl sie selber den Begriff Konstruktivismus meines Wissens nicht verwenden), sind Biologen.
Ihr berühmt gewordenes Buch "Der Baum der Erkenntnis" hat den Untertitel "Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens".
Ein biologischer Schlüsselbegriff ist
Autopoiese, wörtlich: Selbsterzeugung. Die chilenischen Wissenschaftler definieren Lebewesen als "autopoietische Organisationen".
"Nach unserer Ansicht ist deshalb der Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht, die Autopoiese." (Maturana, Varela 1987, 55).
"Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation."
So kann auch Erkennen als autopoietischer Prozess verstanden werden,
Wahrnehmen, Denken, Lernen erfolgt - in Kontakt mit der Umwelt - als autopoietischer, emergenter, selbstreferenzieller Vorgang. Im wörtlichen Sinne gilt: "Die Gedanken sind frei ...", sie entwickeln eine Eigendynamik und entstehen "strukturdeterminiert", nicht aber durch die Umwelt determiniert.
"Von außen" können Gedanken allenfalls angeregt, "perturbiert" werden. "Es erscheint uns offenkundig, dass die Interaktionen zwischen Einheit und Milieu (...) für einander reziproke Perturbationen bilden. Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt)."
Dies gilt auch für das Verhältnis von Lehren und Lernen.
Die
Autopoiese des Denkens lässt sich neurowissenschaftlich - mit Hilfe sogenannter "bildgebender Verfahren" - belegen. Unsere neuronalen Netzwerke verarbeiten nur zum geringen Teil Inputs "von außen", sondern sie operieren überwiegend selbst organisiert und eigen dynamisch. Unser Gehirn kommuniziert gleichsam mit sich selbst, es aktiviert und verknüpft vorhandene Gedächtnisinhalte und Wissensnetze. Ein alltägliches Beispiel:
Wenn das Telefon klingelt, stellt unser Gehirn mehrere Hypothesen auf, wer uns zu dieser Zeit mit welcher Absicht anrufen könnte.
Auch wenn wir jemandem zuhören, führen wir einen "inneren Monolog", setzen
angefangene Sätze des Gesprächspartners fort, verknüpfen einen Gedanken mit entsprechenden "Assoziationsarealen" in unserem Gehirn. So hören wir, was wir hören - und das ist selten mit dem identisch, was der andere sagt.
Die Tätigkeit unseres Gehirns ist synergetisch und emergent - und keineswegs bloß rezeptiv.
Die Bremer Gehirnforscher Erol Basar und Gerhard Roth schreiben: "Die
meisten Eingänge (über 90 %) in corticale Netzwerke stammen von anderen
corticalen Netzwerken. In diesem Sinne ist die Großhirnrinde eine Struktur,
die im Wesentlichen zu sich selber 'spricht'. Auch die s unterstützt die
Interpretation des Neocortex als eines assoziativen (hauptsächlich
autoassoziativen) Netzwerkes." (Basar, Roth 1996, 296). So lässt sich die
These vertreten, "dass kognitive Leistungen innerhalb des Gehirns zumindest zum Teil auf Resonanzphänomenen zwischen Aktivitäten von Neuronenpopulationen (...) beruhen."
Auch die Chaostheorie bestätigt diese Selbstorganisationsthese: Hermann
Haken entwickelt die "Idee der Selbstorganisation", "bei der die einzelnen
Teile eines Systems, zum Beispiel eben die Nervenzellen des Gehirns ihr Zusammenwirken ganz von sich aus bewerkstelligen." Diese "Lehre vom Zusammenwirken" nennt Hermann Haken Synergetik. "Die Synergetik kann als die am weitesten fortgeschrittene Theorie der Selbstorganisation betrachtet werden." (Haken, Haken-Krell 1997, 15).
Auch die Verknüpfung von kognitiven, affektiven und sensorischen Prozessen kann durch Synergetik neue Qualitäten des Erkennens erzeugen.
"Die Synergetik ist nicht nur eine Theorie der Selbstorganisation, sondern in einem allgemeineren Sinne eine Theorie der Emergenz neue r Qualitäten." (Haken 1996, 179).
Für einen neurowissenschaftlich "aufgeklärten" Lernbegriff ergibt sich aus
dieser Selbstorganisation des Gehirns: Lernen ist prinzipiell selbstgesteuert.
Lernen ist keineswegs nur ein "affirmativer" Assimilationsvorgang, sondern
die Verknüpfung von Inhalten verschiedener neuronaler Areale.
Man mag einwenden, dass diese neurobiologischen Forschungsergebnisse unser alltägliches Erkennen, nicht aber die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis betreffen. In der Tat unterscheidet sich unser erkennendes Beobachten des "Mesokosmos" von der naturwissenschaftlichen, experimentellen Erforschung des Mikrokosmos und des Makrokosmos.
Deshalb sollten die Unterschiede zwischen den alltäglichen Lebenswelten
und den wissenschaftlichen Forschungen nicht untersc
hätzt werden. Aber auch Forschungsergebnisse sind beobachtungs- und methodenabhängig.
Dass auch die Physik als scheinbar objektive Wissenschaft "nur" Modelle und keine zeitlos gültigen Wahrheiten hervorbringt, verdeutlicht Richard Bandler mit einer amüsanten Geschichte über den Nobelpreisträger Nils Bohr. Nils Bohr ist der "Erfinder" eines Atommodells, das aus Protonen, Neutronen und Elektroden besteht. Auf Grund dieses Modells wurden viele technische Erfindungen möglich, zum Beispiel das Plastik. "Erst vor kurzem
beschlossen Physiker, dass Bohrs Beschreibung des Atoms falsch sei. (...)
Das wirklich Erstaunliche ist, dass alle die Entdeckungen, die durch den
Gebrauch des 'falschen' Modells zu Stande kamen, immer noch existieren.
(...) Physik wird meist als eine sehr 'objektive' Wissenschaft dargestellt, aber
mir fällt auf, dass die Physik sich ändert, während die Welt gleich bleibt."
(Bandler 1987, 31).
Die Wirklichkeitskonstruktionen der Wissenschaft sind andere als die des "gesunden Menschenverstandes", aber auch der Wissenschaftler konstruiert "seinen" Erkenntnisgegenstand und seine Fragestellung. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um Gedankenspiele, sondern viele dieser Modelle "funktionieren" und haben die Welt verändert. Helmut Peukert beschreibt die epistemologische Wende der modernen Naturwissenschaft wie folgt:
"Immer deutlicher erweist sich die Formulierung der Quantenmechanik in den Zwanzigerjahren durch W. Heisenberg, Nils Bohr, Erwin Schrödinger et al. als der bedeutendste naturwissenschaftliche Durchbruch des 20. Jahrhunderts. (...) Ihre grundlegende philosophische Bedeutung rührt daher, dass dem Beobachter von Quantensystemen eine Rolle zugewiesen wird, die er in der klassischen Physik nicht hat: Durch die Wahl des Messapparates entscheidet er zugleich über die Wirklichkeit. (...) Wirklichkeit ist nur in strenger Korrespondenz zum Handeln des Messenden zu bestimmen." (Peukert 2000, 514).
Auch Wissenschaftler beschreiben die Welt nicht so, wie sie "wirklich" ist,
sondern sie konfrontieren die Welt mit ihren Fragestellungen und Beobachtungen. Wissenschaftler erkennen das, was ihre Untersuchungsinstrumente "hergeben".
Der Konstruktivismus verwendet den Wahrheitsbegriff auch wissenschaftstheoretisch nur zögernd. "Auch empirisch es Wissen ist nur Wissen von der Welt, so wie wir sie erfahren und so wie wir dieses Wissen formulieren. Die Erfahrung, dass empirisches Wissen intersubjektivierbar ist, deutet nicht auf System- und auf Kognitions-Unabhängigkeit hin, sondern auf den Grad kognitiver und kommunikativer Parallelität." (Schmidt 1998, 44).
Auch wenn auf die Leitdifferenz objektiv versus subjektiv verzichtet wird,
werden dadurch wissenschaftliche Aussagen nicht beliebig, und auch die Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung wird nicht in Frage gestellt.
"Wissenschaftliche Erkenntnis als Suche nach bestmöglichen zweckgerechten Problemlösungen behält spezifische Differenzqualitäten gegenüber Kunst, Politik oder Religion. Auch wenn kein objektives Maß für beste Problemlösungen zur Verfügung steht, gibt es in der Wissenschaft bewährte Kriterien gegen Beliebigkeit, angefangen von der logischen Konsistenz der Argumentation, der Einfachheit und Widerspruchsfreiheit der Theorie bis hin zur 'empirischen Überprüfung'."
Also noch einmal - worum geht es beim Konstruktivismus?
Der Konstruktivismus geht davon aus, dass ein erkannter Gegenstand vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Bildlich gesprochen kann man sagen: Diese Art der Realitätsbeschreibung ergibt Landkarten, zeigt aber nicht die Landschaft.
Die Kernfrage des Konstruktivismus lautet:
Auf welche Weise haben wir Anteil an der Konstruktion unserer Erfahrungswelt? – Die Antwort: Menschen sind darauf angewiesen, 'Landkarten' über die Welt zu entwickeln, um sich in ihr zurechtfinden zu können. Dazu gehört es, die Dinge, die uns umgeben, zu benennen, d.h., Konzepte von ihnen zu bilden. Wirklichkeit ist das Produkt wirksamer Unterscheidungen, die man zum Beispiel durch Begriffszuschreibungen vornimmt wie:
"Dies ist ein Baum."
"Dies ist mein Körper."
"Dies ist eine Familie."
Zu Schwierigkeiten kann es dann kommen, wenn man vergisst, dass solche Konzepte
nur Bezeichnungen bzw. Labels sind und nicht die Dinge an sich. Die Konzepte sind
unsere Erfindung. Diese Aussage wird praktisch relevant, wenn wir an Begriffe denken, die im NLP 'Nominalisierungen' genannt werden. Nominalisierungen sind Substantive, die man nicht als Gegenstände in der Welt vorfindet: zum Beispiel Begriffe wie 'Freude, Seele, Planung'. Wer wollte bestimmen, was "Freude" wirklich ist?
Oder: Ob sich meine Frau wirklich darüber freut, dass ich eine Stunde früher nach Hause gekommen bin, wird schwerlich jemand objektiv beurteilen können.
Wie aber steht es mit realen Gegenständen wie einem Baum?
Der existiert doch wirklich - oder?
Radikale Konstruktivisten sind auch hier skeptisch. Spätestens seitdem der Physiker Heisenberg entdeckte, dass die Position von Beobachtern und die Art ihrer Fragen darüber entscheidet, ob es sich bei dem Beobachteten um ein Teilchen oder eine Welle handelt (Heisenbergsche Unschärferelation), setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch die physische Welt ein Konstrukt ist.
"Die Welt ist ein Prozess. Sie ist nicht, sie geschieht!"
Wirklichkeit' wird durch einen langen Prozess von Sozialisation und Versprachlichung im gesellschaftlichen Dialog konstruiert.
"Systeme konstruieren gemeinsame Wirklichkeit als Konsens darüber, wie die Dinge zu sehen sind. Die gemeinsame Sichtweise davon, was als 'Wirklichkeit' in einem System erlebt wird, ist weitgehend bestimmend für Glück oder Unglück, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit."