Brühwürfel der Weltliteratur
Weil dieser Roman jetzt hundert Jahre und einen Tag alt ist und ich immer wieder gerne darin lese und er definitiv eines der Bücher ist, die ich auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde: James Joyce's "Ulysses", den "Brühwürfel der Weltliteratur", wie Kurt Tucholsky ihn einmal bezeichnete. Er stöhnte über den 1500-Seiten-Wälzer auf seinem Nachttisch, dennoch hat er 1927 etwas Schlaues über ihn geschrieben:"Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden."
Am 2. Februar 1922, dem 40sten Geburtstag des in Zürich begrabenen Iren Joyce, erschien eines der wichtigsten und innovativsten Bücher der Moderne. Das heißt: In Großbritannien blieb es bis 1936 verboten, der Zoll verfeuerte Schwarzimporte, in den USA brauchte es ein sensationell literaturkluges Gerichtsurteil von 1934.
"Ulysses" galt als ordinär und versaut, dabei kommt gar kein echter Sex vor.
Eine Gefahr ging von dem Buch ohnehin nie wirklich aus, es hat ja kaum jemand (ganz) gelesen.
"Ulysses" ist das größte Paradoxon der Literaturgeschichte: einerseits schwindelerregend voll von Perspektivwechseln, Wortspielen, Zitaten, Anspielungen aus Mythologie, Theologie, Literatur, Geschichte, Songs. Und andererseits Anlass für das größte literarische Volksfest Europas, den "Bloomsday" am 16. Juni in Dublin, der natürlich mit leicht urinösen Schweinsnierchen zum Frühstück beginnt. Die Party folgt dem Roman: einen Tag und eine Nacht mit dem Junglehrer Stephen Dedalus und dem etwas gedrückten Anzeigenverkäufer Leopold Bloom durch die Stadt.
Weil eigentlich nichts passiert, tun sie, was man eben so tut: schwadronnieren, essen, fluchen, die rotzgrüne See besingen, masturbieren, sie gehen aufs Klo und einen heben, versacken walpurgisnachtreif im Rotlichtviertel und - am folgenschwersten - sie lassen ihre Gedanken schweifen.
Joyce hat diesen "stream of consciousness" nicht erfunden, aber im "Ulysses" zur Meisterschaft geführt. Das kann sehr anstrengend sein, ist aber enorm musikalisch.
Wer einmal probieren möchte, kann im Kapitel vier starten und mit Bloom frühstücken, oder in Kapitel zehn den Spuren von 19 Dublinern folgen. Oder im Schlusskapitel ("Penelope") heimlich Molly Blooms Nachtgedanken lauschen. Die haben übrigens selbst Tucholsky tief beeindruckt.
Ich lese den "Ulysses" jetzt zum ungefähr sechsten Mal in einem Zeitraum von ungefähr 45 Jahren, und entdecke jedes mal immer noch zusätzliche neue Bezüge und Ebenen, die sich mir eröffnen. Ein wahrer Schatz!