Florian Werner, Der Stuttgart Komplex
Florian Werner lebt seit mehr als 20 Jahren in Berlin und macht sich keine Illusionen über das Image seiner alten Heimat. "Noch nie habe ich erlebt", schreibt er, "dass jemand auf die Aussage ,Ich komme aus Stuttgart‘ mit einem begeisterten ,Cool!‘, ,Geile Stadt!‘ oder ,Da wollt’ ich schon immer mal hin‘ reagiert hätte."
Wer könnte ihm widersprechen? Den Titel "Der Stuttgart-Komplex. Streifzüge durch die deutsche Gegenwart." trägt Werners Buch nicht aufgrund überbordenden Selbstbewusstseins. Einerseits. Andererseits ist der Schriftsteller und Sachbuchautor sicher: Der Stuttgarter Talkessel ist der wahre Pott dieser Republik, melting pot und Petrischale in einem, ein komplexer Niederschlag deutscher Prinzipien.
So wie Athen der Inbegriff der antiken Demokratie, Rom die prototypische Stadt des christlichen Mittelalters und Manchester die Schlüsselmetropole des modernen Industriekapitalismus, so sei Stuttgart "jene Stadt, die emblematisch für die Bundesrepublik zu Beginn des dritten Jahrtausends steht". Die These ist mindestens so steil wie die Wände des Stuttgarter Kessels.
Der Nesenbach, der ihn geformt hat, verläuft freilich unsichtbar unter der Stadt, und auch Werner deckt bei seinen Recherchen prägende Unterströmungen auf, die seine Behauptung bedenkenswert machen.
Die baden-württembergische Landeshauptstadt ist, das darf man als jemand, der an ihrer Peripherie aufwuchs, vielleicht festhalten, nicht so spießig, wie man andernorts gerne glaubt, und auch nicht so unattraktiv, dass die Gedanken ständig ums Wegkommen kreisen müssten. Dennoch gründet Stuttgart auf dem Gedanken der Mobilität, von den Ursprüngen als Gestüt bis zu den heutigen Wirtschaftszugpferden Daimler, Porsche und Bosch.
Die traditionelle deutsche Leitindustrie wurde hier nicht nur erfunden, sie hat das Bild der Stadt mustergültig geprägt: Dem Streben nach einer autofreundlichen Innenstadt sind in Stuttgart mehr Gebäude zum Opfer gefallen als der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg, wie Werner erläutert. Dass Deutschland als einzige Industrienation kein Tempolimit kennt, verdanke sich einem Freiheitsverständnis, das vor allem am ADAC geschult sei – Gründungsort Stuttgart. Die aufwendigen Luftfilter am schmutzigsten Feinstaubmesspunkt der Republik, dem Neckartor, belegten vor allem den Glauben, dass die Herausforderungen der Gegenwart kein grundsätzliches Umdenken erfordern.
In Baden-Württemberg versucht sich Deutschlands erster grüner Ministerpräsident seit elf Jahren am mehrheitsfähigen Spagat zwischen Wirtschaft und Umweltschutz. In Stuttgart nahmen aber nicht nur die Partei der Grünen, sondern auch der Internationale Frauentag und die Waldorfbewegung ihren Ausgang. Der zeitweilige Waldorfschüler Werner spürt dem geistigen Erbe von Pietismus und Anthroposophie nach, insbesondere der Betonung des Individuums.
Wenn man Wissenschaftlern glauben darf, hat Baden-Württembergs Landeshauptstadt gegen das Jahrhundertprojekt "Stuttgart 21" Deutschlands erstes postmodernes Protestbündnis hervorgebracht und damit je nach Blickwinkel "Wut-" oder "Mutbürger". Später etablierte die "Querdenken 711"-Bewegung das Wort "Querdenker" bundesweit für Demonstrationen gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.
Die Geografie des Stuttgarter Kessels und seine Besiedlungsstruktur inspirieren Florian Werner zu Betrachtungen über die kapitalistische Wertschöpfungskurve, soziologische Entwicklungen und das zwiespältige Verhältnis der Deutschen zur Natur. An anderen Stellen geht es um die Kehrwoche, Äffle und Pferdle und eine Repression, vor der manche Schwaben dann doch nach Berlin fliehen – um dort zum Klischee anpassungsunwilliger Migranten zu werden. Dabei ist Stuttgart eigentlich ein Vorbild für gelungene Integration. Der Stuttgarter Talkessel sei nicht nur ein Abbild sozialer Höhenunterschiede, sondern eben auch ein Schmelztiegel, sinniert Werner zum Ende hin. Oder, besser noch: ein Bananenweizen. Mehr wird hier nicht verraten.
Das Bändchen mäandert souverän zwischen Rosa Luxemburg und den Fantastischen Vier, ohne Faden und Leichtigkeit zu verlieren. Dass sein Autor "Stäffele" (die Stuttgarter Stäffele sind aktuellen Schätzungen zufolge etwa 600 Treppenanlagen im gesamten Stadtgebiet) gefegt hat, um der meditativen Qualität des Kehrens nachzuspüren, merkt man ihm nicht an. Aber es hat gewirkt: "Wir müssen uns den Stuttgarter als einen glücklichen Menschen vorstellen."
Ich jedenfalls habe das Buch auf dem Hintergrund eigener biographischer Bezüge zu Stuttgart gerne gelesen und fand es anregend, stellenweise auch amüsant. Es eignet sich zudem gut als Geschenk für Stuttgarter Exilschwaben im Freundes- und Bekanntenkreis.